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Asien



Mädchentötungen in Asien
(Hartwig Weber, 2012) 

In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern sind Frauen und Mädchen massiv diskriminiert. Mädchen werden von Geburt an vernachlässigt, schlecht ernährt, mangelhaft versorgt und dürfen nicht zur Schule gehen. China und Indien haben sich obendrein durch die Praxis selektiver Abtreibung weiblicher Föten einen Namen gemacht. Die Bevölkerung wächst, aber das Wachstum ist nicht natürlich. In Asien werden viel mehr Jungen als Mädchen geboren. Heute schon fehlen dem Kontinent mehr als 160 Millionen Frauen. Früher gab man kulturellen Traditionen die Schuld an dieser Entwicklung, offensichtlich sind es aber eher ökonomische Gründe.

In Ländern wie China und Indien hat man versucht durch niedrigere Geburtenraten und ein langsameres Bevölkerungswachstum die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Dies schlägt hauptsächlich zu Ungunsten des weiblichen Nachwuchses aus. Ein UN-Bericht aus dem Jahr 2010 macht die beiden Länder für viele Millionen verhinderter Frauenleben verantwortlich. Die Tatsache, dass es selektive Abtreibungen und Kindesmorde gibt, wird inzwischen auch von indischen und chinesischen Forschern bestätigt.

Im Jahr 2020 sollen allein in China 30 bis 40 Millionen Frauen im Alter zwischen 10 und 29 Jahren fehlen. In Indien sind viele Millionen ungeborene Mädchen durch selektive Abtreibung getötet worden. Obwohl sich buddhistische und taoistische Traditionen gegen Kindestötung aussprechen, kommt es weiterhin zu Aussetzungen und Tötungen vor allem von Mädchen.

Die inzwischen verbreitete pränatale Diagnostik des Geschlechts Ungeborener optimiert die Möglichkeit der Selektion, treibt die Rate der Abtreibungen in die Höhe und potenziert das fortschreitende Ungleichgewicht. Chinas „Ein-Kind-Politik“ und die Tatsache, dass die meisten Eltern Söhne als Stammhalter favorisieren, ist ein wesentlicher Grund für den Frauenüberschuss.

In Indien ist es die Furcht vieler Familien, dass sie sich durch die Mitgift, die bei der Hochzeit einer Tochter fällig wird, über die Maßen verschulden müssen. Mädchen sind obendrein von geringerem Wert, weil sie in die Familie des Mannes wechseln. Allein die Söhne sind es, denen die Aufgabe obliegt, die Eltern im Alter zu versorgen.

Die Folgen der unnatürlichen Entwicklung sind verheerend. Offenbar steigen dort, wo Frauenmangel herrscht, die Mordraten an, der Kinderhandel blüht, und die Prostitution nimmt zu. Viele asiatische Männer müssen inzwischen für eine Ehefrau bezahlen. Menschenhändler entführen und verschleppen Mädchen. Der Frauenhandel verläuft bevorzugt von Vietnam nach China und von Taiwan nach Südkorea, wo ebenfalls Frauenmangel herrscht.

Das Ungleichgewicht könnte auf andere Teile der Welt übergreifen. Forscher beobachten dieselbe Entwicklung auch in Teilen Osteuropas. In Armenien, Albanien, Aserbaidschan und Georgien fehlen prozentual ähnlich viele Frauen wie in Indien und China. Auch dort nehmen Frauenhandel, Prostitution und Gewalt in den Familien zu. Demographieforscher warnen vor einer „Maskulinisierung“ der Welt mit unabsehbaren Folgen.

 

China

In China kommen auf 100 neugeborene Mädchen 121 Jungen, in Indien sind es 112. Normal wäre ein Verhältnis von 105 zu 100. In manchen chinesischen Städten gibt es doppelt so viele Jungen wie Mädchen. Die Selektion nach Geschlecht kommt keineswegs nur in armen, ungebildeten Schichten vor. Im Gegenteil, sie wird besonders häufig von wohlhabenden Städtern und gebildeten Müttern praktiziert.

In China sind die Regeln für Abtreibungen nicht sehr streng. Es gibt keine zeitlichen Fristen. Allerdings ist selektiver Fetozid (Schwangerschaftsabbrüche wegen des Geschlechts) illegal. Die systematische Abtreibung übersteigt bei Weitem das Ausmaß der Tötung von Mädchen kurz nach der Geburt.

Mit seiner im Jahr 1979 eingeführten „Ein-Kind-Politik“ kämpfte die Volksrepublik China, das bevölkerungsreichste Land der Erde, gegen das rasante Bevölkerungswachstum. Am 29. Dezember 2001 (bzw. 1. September 2002) wurde in einem neuen Familienplanungs- und Bevölkerungsgesetz die Politik der Geburtenkontrolle und Familienplanung bestätigt. Nach der Geburt des ersten Kindes gilt danach jedes weitere Kind als von Staats wegen "ungewollt". Nur unter bestimmten Umständen (etwa bei Behinderung oder Tod des ersten Kindes) ist die Geburt eines zweiten Kindes erlaubt. In ländlichen Gebieten werden Ausnahmen geduldet. Auch sind nationale Minderheiten von den Vorschriften ausgenommen, besonders bevölkerungsarme Nationalitäten unterliegen keiner Geburtenkontrolle.

Die Familienplanung wird mit Belohnungen und Sanktionen durchgesetzt. Es gibt materielle Anreize für Ein-Kind-Familien, monatliche Prämien wie auch Begünstigungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Wohnen. Bei Nichteinhaltung der Vorgaben werden finanzielle Strafen verhängt. Viele Eltern lassen sich trotzdem nicht abhalten, mehr Kinder als erwünscht zu gebären.

Die Auswirkungen der Ein-Kind-Politik sind offensichtlich. Die Fertilität in der Volksrepublik nahm stark ab, das Bevölkerungswachstum verlangsamte sich, und die Bevölkerungszahl sank um 400 Millionen. Gleichzeitig vertieften sich die bestehende Kluft zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung sowie die zwischen Arm und Reich.

Bei Volkszählungen in den Jahren zwischen 1953 und 1964 waren die Geschlechterproportionen bei Kleinkindern von 104 zu 105 noch normal. Bis zum Jahr 1982 wuchs die Zahl der Jungen auf 108, bis 1995 auf 116 und bis 2000 auf 118 an pro 100 Mädchen. Wohlhabende können sich die Geldbußen für ein zweites, ungenehmigtes Kind leisten, für Arme in prekärer Lebenslage gilt dies nicht. Im Übrigen drohen eine rapide Überalterung der Gesellschaft, Arbeitskräftemangel und eine Abnahme der Wirtschaftsleistung.

Seit jeher behauptet die Regierung, ihre Bevölkerungspolitik beruhe auf freiwilliger Akzeptanz. In Wirklichkeit setzt sie elementare Menschenrechte außer Kraft. Inzwischen machen es zahlreiche Ausnahmeregeln eher möglich, ein zweites Kind zu bekommen. Die Regierung setzt verstärkt auf Abschreckung durch finanzielle Mittel. Allerdings sind Abtreibungen immer noch bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat möglich und legal.

In den nächsten Jahren werden viele Millionen junger Chinesen in ihrem Heimatland keine Frauen finden, die sie heiraten können. Für das Jahr 2020 wird ein Überschuss von 40 Millionen junger Männer im heiratsfähigen Alter vorausgesagt. Das Gleichgewicht in Gesellschaft und Politik ist gefährdet. Aufgrund des eklatanten Frauenmangels steuert die chinesische Regierung inzwischen gegen. Ab 2014 soll eine Zwei-Kind-Politik für Eltern, die selbst Einzelkinder sind, gelten. Eine Kampagne soll die Geburten von Mädchen auf dem Land mehren. Ehepaare, die sich für die Geburt einer Tochter entscheiden, werden mit einer zusätzlichen finanziellen Altersabsicherung belohnt. Aber die Landbevölkerung hält weiterhin an ihrer Praxis der Geschlechtskontrolle und Abtreibung fest. Auf längere Sicht könnten die Vergünstigungen, die Familien mit weiblichem Nachwuchs bereitgestellt werden, jedoch zu einer ausgeglichenen Sexualproportion und einem besseren Ansehen der Mädchen führen.

Als eine der kriminellen Folgen der chinesischen Ein-Kind-Politik gilt der zunehmende Handel mit Kindern. Sie hat zu einer hohen Nachfrage nach Jungen geführt. Vor allem auf dem Land suchen viele Familien männliche Nachkommen. Jungen werden gekauft, Mädchen gegen einen geringeren Preis weggegeben.

Offiziellen Angaben zufolge werden pro Jahr in China 30 000 bis 60 000 Kinder vermisst (vgl. Die Rheinpfalz, 6. Januar 2012, S.8). Der Kinderhandel hat sich zu einem weit verbreiteten und profitablen Geschäft entwickelt. Angeblich bezahlen Kinderhändler für männliche Babys etwa 3 600 Euro, um sie sodann für ein Mehrfaches weiter zu geben. Ältere Kinder werden als Arbeitskräfte angeboten. Sie schuften wie Sklaven in Industriebetrieben und Kohlegruben.

Die Händler sind miteinander vernetzt. Die Polizei stieß auf Gebärkliniken, wo Krankenhausmitarbeiter und Zwischenhändler Neugeborene armer Eltern an reiche zahlungswillige Paare verkaufen – Jungen für ungefähr 10 000 Euro, Mädchen für die Hälfte.

Die Regierung will den Kinderhandel stärker verfolgen. Auf das Verbrechen steht die Todesstrafe. Das Ende der Ein-Kind-Politik, das für 2015 vorgesehen ist, soll den Kinderhändlern den Nährbogen entziehen.

 

Indien

Auch in Indien hat die Tötung von Mädchen Tradition. Lange Zeit wurden sie ertränkt, verbrannt, vergiftet. Heute werden weibliche Föten systematisch abgetrieben. Diese Methode der Geburtenkontrolle ist einfacher geworden, weil das Geschlecht Ungeborener bereits in einem frühen Stadium der Schwangerschaft festgestellt werden kann. Viele Frauen müssen so lange abtreiben, bis sie endlich einen Sohn gebären. Auf einzelne Hebammen sollen Hunderte von Abtreibungen kommen.

In Indien gelten Söhne als Ernährer und Versorger ihrer Eltern im Alter. Nach hinduistischer Tradition sind es die männlichen Nachkommen, die bei der Beerdigung ihrer Eltern den Scheiterhaufen in Brand setzen. Indes sind Mädchen eine unnütze Last. Ihre Familien müssen bei der Hochzeit für ein beträchtliches Brautgeld aufkommen.

Die Praxis der Abtreibung und Kindestötung hat dazu geführt, dass heute in Indien auf 1000 Männer lediglich 927 Frauen kommen. Nach einem Bericht des UN-Kinderhilfswerks Unicef verliert das Land täglich 7000 Mädchen durch Abtreibung. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sollen so zehn Millionen Mädchen abgetrieben oder getötet worden sein.

Wie in China, so stehen heute auch in Indien neue, preisgünstige und mobile Ultraschallgeräte zur Verfügung, die nach Bedarf mit Solarenergie betrieben werden können, so dass Ärzte durch pränatale Diagnostik das Geschlecht ungeborener Kinder bestimmen und Schwangerschaftsabbrüche vornehmen können – landesweit und bis ins entfernteste Dorf. Dieses Geschäft soll ihnen jedes Jahr viele Hundert Millionen Dollar einbringen.

Gegen „Genderzid“ oder „Femizid“ (die Tötung ungeborener Mädchen) geht die indische Regierung vor. Sie hat strenge Abtreibungsgesetze erlassen. Seit 1994 sind Tests verboten, die das Geschlecht eines Embryos bestimmen sollen. Der Abbruch einer Schwangerschaft ist nur bei gesundheitlichen Risiken und nach einer Vergewaltigung erlaubt. Nach der 20. Schwangerschaftswoche sind Abtreibungen grundsätzlich verboten. Abbrüche wegen des Geschlechts sind immer illegal. Bei Zuwiderhandeln drohen bis zu fünf Jahre Haft.

Dennoch bleibt der Überschuss an Geburten von Jungen hoch. Die Regierung (Premierminister Manmohan Singh im Jahr 2008) nennt dies eine "nationale Schande" und fordert einen "Kreuzzug zur Rettung der Mädchen". Das indische Anti-Abtreibungsgesetz bleibt jedoch weithin wirkungslos. Die Ärzte halten sich nicht daran. So sucht die Regierung nach neuen Wegen. Der jüngste Plan sieht vor, alle Schwangerschaften zu registrieren. Die Differenz zwischen gemeldeten Schwangerschaften und tatsächlichen Geburten soll Aufschluss geben, wo besonders viele weibliche Föten abgetrieben werden.

Der fortbestehende soziale Druck auf Frauen, ihre ungeborenen Töchter zumal dann abzutreiben, wenn sie noch keinen Sohn geboren haben, ist Ausdruck der tiefgreifenden kulturellen Diskriminierung des weiblichen Geschlechts in Indien. Frauen sind minderwertige Wesen. Das Ausmaß der gesellschaftlich geduldeten Gewalt gegen sie ist unvorstellbar.

Obgleich Kinderehen verboten sind, heiraten fast 50 Prozent aller indischen Mädchen, bevor sie volljährig geworden sind. Je jünger die Braut ist, desto weniger müssen ihre Eltern für die Mitgift bezahlen. In keinem Land der Welt gibt es so viele minderjährige Ehefrauen.

Indische Frauen fühlen sich in der Öffentlichkeit permanent bedroht und vielerlei Gefahren ausgesetzt. Der eklatante Männerüberschuss ist der Nährboden für Sexualverbrechen. Allein im Jahr 2011 wurden in Indien über 24 000 Vergewaltigungen angezeigt, weit über 600 pro Jahr allein in Delhi. Angeblich werden die meisten Frauen auf Polizeistationen vergewaltigt. Nur ein Viertel der gemeldeten Vergewaltigungsfälle führen vor Gericht zur Verurteilung der Männer. Über 80 Prozent der Verfahren sind seit Jahren anhängig (vgl. Die Zeit, 3. Januar 2013, S. 5).

 

Links:

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung über Indien:
http://www.berlin-institut.org/online-handbuchdemografie/bevoelkerungspolitik/indien.html

Bevölkerungsstudie: China und Indien:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/bevoelkerungsstudie-indien-und-china-droht-massiver-frauenmangel-a-750782.html

Abtreibungen in Indien:
http://www.welt.de/vermischtes/article106264933/Das-Schicksal-von-Indiens-verlorenen-Toechtern.html

Ein-Kind-Politik in China:
http://www.igfm.de/Die-Ein-Kind-Politik-der-VR-China-und-ihre-Auswirkungen.978.0.html

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 07.07.2015 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |