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Europa

Schweiz
(Text: Hartwig Weber, August 2011)

 
Über die Situation von Kindern und Jugendlichen der Straße in der Schweiz liegen einige Studien vor. F. Schenker und T. Etter (Straßenkinder in der Schweiz? Kinder und Jugendliche auf der Straße, Bern 1997) stellten fest, dass dieses Phänomen als versteckte Randproblematik tatsächlich existiert. Die Bezeichnung „Straßenkinder" sei allerdings unzutreffend, da es sich überwiegend um Jugendliche handle. Anders als in der Dritten Welt stehe die Armutsproblematik nicht im Vordergrund. Gründe, die die jungen Menschen auf die Straße treiben, seien Konflikte, Probleme und Zerrüttung in der Familie. Im Hintergrund stünden kulturelle Problemlagen, Autonomiebestreben der Jugendlichen, Pubertätskrisen, Gewalt, sexueller Missbrauch und unerträgliche Lebenssituationen.

A.Staub (Läbe uf dr Gass – Eine qualitative Studie über Straßenkinder in der Stadt Bern, Bern 2002) stieß auch in Bern auf junge Menschen unter 18 Jahren, die von zu Hause geflüchtet oder von dort vertrieben worden waren und nun im öffentlichen Raum, auf sich allein gestellt und ohne feste Unterkunft lebten. Vorwiegend handelte es sich um 16-Jährige und Ältere. Zum Teil arbeiteten oder bettelten sie, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie übernachteten in besetzten Häusern, bei Freunden oder „draußen". Als Ursachen für ihre Lebenssituation nannten sie gesellschaftlich, wirtschaftlich oder persönlich bedingte Konflikte mit Erwachsenen. 


C. Braun, T. Siegenthaler und T. Niederhauser (Straßenkinder in Zürich, Zürich 2002) untersuchten die Lebenssituationen schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher, die einen großen Teil ihrer Freizeit auf der Straße verbringen, sich dort in ihrer Peer-Group bewegen und nachts nicht regelmäßig nach Hause kommen, wobei ihre Eltern tagelang nicht wissen, wo sich ihre Sprösslinge herumtreiben. Es handelt sich also um junge Menschen, die zwar im klassischen Sinne nicht obdachlos waren, bei denen aber die Integrationsversuche verschiedener Sozialisationsinstanzen mit Hilfesysteme versagt hatten.


Norbert Hänsli und Silvia Ihle (Kinder und Jugendliche auf der Straße? Pilotstudie der Stadt Zürich. Studie im Auftrag der Jugendseelsorge Zürich – Katholische Arbeitsstelle für Jugendarbeit und Jugendberatung im Kanton Zürich, Zürich 2004) suchten in ihrer Studie nach einer quantitativen Einschätzung des Phänomens und seiner spezifischen Ausprägung in der Stadt Zürich. Sie fahndeten nach jungen Menschen, bei denen die Straße zeitweise oder dauerhaft zum Lebensmittelpunkt geworden war und die keine oder nur lose Bezüge zu ihren Familien, zu Jugendhilfeeinrichtungen, zur Schule oder zu Ausbildungsinstanzen unterhielten.


Zur Kennzeichnung von „Kindern und Jugendlichen der Straße" legten die Verfasser die gleichen Kategorien zugrunde, die auch bei anderen Untersuchungen etwa in Deutschland maßgeblich waren:
- Die Betroffenen sind in der Regel über 12 Jahre alt, die meisten sind sogar älter als 15 Jahre.

- Während Armut und Elend Hauptgründe für die Existenz des Straßenkinderphänomens in der Dritten Welt darstellen, sind es in Mitteleuropa vielfältige Problembelastungen auch psychologischer und sozialer Art.
- Mitteleuropäische Straßenkarrieren sind meist „Pendelkarrieren": Zwar ist die Straße der eigentliche Lebensmittelpunkt der Betroffenen, aber die wenigsten Jugendlichen werden dort dauerhaft leben.
- Die Jugendlichen versuchen durch Gelegenheitsarbeiten, Bettel, Diebstahl, Raub, Prostitution und Drogenhandel die Mittel zu beschaffen, die sie zum Überleben brauchen. 

Hänsli und Ihle schöpften ihre Daten aus der Befragung sämtlicher Institutionen der Stadt Zürich, die mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen im weitesten Sinne in Kontakt stehen. Berücksichtigt wurden junge Menschen unter 25 Jahren, die vier Merkmale erfüllen: Sie leben dauerhaft oder aber einen Großteil ihrer Zeit auf der Straße. Sie haben sich von Familie, Jugendhilfe, Schule und Ausbildung abgekehrt. Ihre Eltern wissen oft mehrere Tage lang nicht, wo sie sich aufhalten. Sie kommen über Nach nicht regelmäßig nach Hause.


Unter Berücksichtigung der genannten Kategorien ergab sich, dass das durchschnittliche Alter der Betroffenen wenig über 17 Jahren liegt. Die meisten sind zwischen 16 und 17, die Jüngsten 13 Jahre alt. Je älter sie werden, umso stärker nimmt ihre Zahl ab. Die Verfasser vermuten, dass es sich bei dem Phänomen „Straßenjugendliche" um ein Entwicklungsproblem handelt, „das sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nur bei einem geringen Teil der Betroffenen über die Adoleszenz hinaus" verfestigt (vgl. Hänsli und Ihle: Pilotstudie Zürich, S. 16).


Unter den gezählten Personen machten Mädchen 39 Prozent, Jungen 61 Prozent aus. Dabei waren die männlichen etwas älter als die weiblichen Jugendlichen. Nur in der niedrigsten Altersklasse der Dreizehn- und Vierzehnjährigen stießen die Forscher ausschließlich auf Mädchen. Die meisten Jugendlichen stammten aus der Schweiz und aus anderen europäischen Ländern, nur wenige aus Afrika, Südamerika, Asien und USA.


Mehr als die Hälfte der Befragten übernachteten ohne Wissen ihrer Eltern mehrere Nächte pro Woche, fast 20 Prozent mehrere Wochen pro Monat und etwa 25 Prozent mehrere Monate im Jahr außerhalb ihrer Familien bzw. ihres offiziellen Zuhauses. Je älter die Jugendlichen waren, umso häufiger schliefen sie woanders.


Fast die Hälfte der in der Studie ausfindig gemachten Jugendlichen war nicht mehr schulpflichtig. Aber von denen, die noch zur Schule hätten gehen müssen, besuchten lediglich 5 Prozent regelmäßig den Unterricht. Je älter die Jungen und Mädchen wurden, umso seltener gingen sie zur Schule.


Die Belastungen, denen die jungen Menschen ausgesetzt waren, sind vielfältig und gravierend. Am häufigsten wurden Konflikte in der Familie genannt. Oft wurde auf passiv erlebte, aber auch auf selbst ausgeübte Gewalt verwiesen. Viele Jugendliche hatten Probleme mit weichen und harten Drogen. Auch Kulturkonflikte, Migrationserfahrungen und Kriegstraumata spielten in ihrem Leben eine große Rolle. Gründe, um auf die Straße zu gehen, waren darüber hinaus Konflikte in der Schule, bei der Arbeit und in der Lehre. Die jungen Menschen litten häufig unter gesundheitlichen Problemen und Depressionen. Sie glaubten, dass es in der Gesellschaft für sie keinen Platz gäbe. 

 

Literatur 

A.Staub (Läbe uf dr Gass – Eine qualitative Studie über Straßenkinder in der Stadt Bern, Bern 2002


C. Braun, T. Siegenthaler und T. Niederhauser (Straßenkinder in Zürich, Zürich 2002)


Norbert Hänsli und Silvia Ihle (Kinder und Jugendliche auf der Straße? Pilotstudie der Stadt Zürich. Studie im Auftrag der Jugendseelsorge Zürich – Katholische Arbeitsstelle für Jugendarbeit und Jugendberatung im Kanton Zürich, Zürich 2004)

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 06.11.2012 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |