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Bedrohte Kindheiten

Barrio Triste
 
 
Methoden der Straßenkinderpädagogik. Handlungsorientierung. Projekte
 

Wo Straßenkinder abgeholt werden müssen
Eine Sache ist es, Lernziele zu formulieren, eine andere, sie zu erreichen. Kinder und Jugendliche, die lange Zeit auf der Straße gelebt haben, sind keine idealen Objekte von Bildungsanstrengungen. In der Regel fällt es ihnen schwer, abstrakt zu denken oder über komplizierte Dinge zu reflektieren. Wollen sie etwas ausdrücken oder erklären, so gehen sie meist intuitiv vor und halten sich an das, was man sieht und spürt. Theoretische Konstruktionen und Vorstellungen zu entwickeln, ist ihre Sache nicht. Sie bewegen sich lieber innerhalb des Rahmens ihrer Alltagserfahrungen.

Beim Umgang mit kolumbianischen Straßenkindern und –jugendlichen kann man feststellen, dass es stets die eigene konkrete, überschaubare Umwelt ist, die ihre Aufmerksamkeit weckt. Ihr Interesse richtet sich auf Praktisches, Nützliches und Verwertbares (vgl. zum Folgenden Gloria E. Herrera Casimilas et al.: Tejiendo caminos de esperanza. La formación de maestros en contextos de vulnerabilidad, Medellín, 2010). Sie betrachten Dinge, Situationen und Menschen unter der Fragestellung, was sie ihnen nützen und was sie mit ihrer Hilfe erreichen könnten. Ihre Aufmerksamkeit ist augenblicksorientiert, flüchtig und äußerst wechselhaft. Was sie heute interessant finden und mit Spannung verfolgen, ist ihnen morgen völlig gleichgültig.

Wenn sie nicht krank, durch Unfälle behindert oder auf Droge sind, sind sie stark, flink und äußerst beweglich. Auf Anregungen, die sie körperlich fordern, gehen sie in der Regel bereitwillig ein. Sie lieben es, sich zu bewegen, in Aktion zu treten und ihre Kräfte mit anderen zu messen. Zum Ballspielen sind sie jederzeit bereit, und nichts lieben sie mehr als Fußball.

Die Entwicklung ihrer sprachlichen Fähigkeiten ist sehr häufig eingeschränkt, gebremst oder gestört. Sie benutzen den auf der Straße gebräuchlichen Code mit Begriffen, die oft nur sie selbst verstehen. Wenn sie Urteile fällen, kommen sie meist ohne kompliziertes Argumentieren, Analysieren und Abwägen aus. Die Begrenztheit ihres sprachlichen Ausdrucks machen sie mit nonverbalen Gesten wett. Körperbewegungen ersetzen Wörter und Erklärungen.

Auch diejenigen Jugendlichen, die die Schule besucht haben, können oft nur mühsam lesen und schreiben. Die wenigsten sind fähig, sich zufriedenstellend schriftlich auszudrücken oder selbständig kleinere Texte zu verfassen. Zum Ausgleich des Mangels garnieren sie ihre Sätze mit Zeichnungen, die auch bei älteren Jugendlichen infantil erscheinen. Die Motivation zu schreiben oder gar schreiben zu lernen, ist selten stark ausgeprägt.

In der Art, wie sie sich ausdrücken, zeigen Straßenkinder, dass sie sich ihrer eigenen Fähigkeiten nicht sicher sind. Sie befürchten, diese oder jene Aufgabe nicht bewältigen zu können und haben Angst, zum Objekt des Spottes anderer zu werden. Das Ansehen in der Gruppe der Freunde ist wichtiger als alles andere. Nichts ist schlimmer, als von den Kameraden stigmatisiert oder gedemütigt zu werden. Schwierigkeiten geht man, wenn irgend möglich, aus dem Weg. Wenn ein Straßenkind in Zweifel ist, ob es ein Vorhaben oder eine Aufgabe bewältigen kann, geht es das Wagnis zu scheitern erst überhaupt nicht ein, sondern behauptet, es hätte keine Lust dazu. Zurechtweisungen gegenüber sind die Kinder und Jugendlichen der Straße sehr empfindlich, insbesondere wenn die Kritik von Kameraden kommt.

Was die von anderen erwartete Aufmerksamkeit und Zuwendung betrifft, so sind Straßenkinder anspruchsvoll und stets darauf bedacht, dass man ihnen freundlich und warmherzig begegnet. Sie wollen wertgeschätzt werden. Sie lieben Nähe und körperliche Berührungen. Pädagogen mag es schwer erträglich sein, dass sie auf der Straße  mit Dankbarkeit kaum rechnen können. Im Kontakt mit Straßenkindern gibt es kein ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen. Ihr Verlangen ist gleichwohl unersättlich.

Aufgrund fehlender und meist negativer Erfahrungen fällt es ihnen schwer, tragfähige Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen, die weiter reichen als ihre handfesten Erwartungen. Im Kontakt untereinander sind sie oft schroff. Neckereien gehen rasch in Streit über. Wenn sie miteinander kämpfen, geht es selten ohne schmerzhafte Schläge oder Tritte ab. Manchmal fallen sie ohne Vorwarnung über einander her. Verletzungen, die sie sich im Drogenrausch zufügen, sind oft gravierend, blutig, mitunter lebensbedrohlich.

Straßenkinder leben ganz und gar im Hier und Jetzt. Was für sie zählt, ist konkret, praktisch, verwertbar und aktuell. An Zukunftsplänen haben sie kein Interesse. Über den Tag hinaus zu denken und zu planen, wäre illusionär.

Die Aufmerksamkeit von Straßenkindern gewinnt man immer nur für kurze Zeit. Konzentration ist eine schwere Herausforderung. Das Interesse erlahmt schnell. Am liebsten eilen sie von Attraktion zu Attraktion. Je schwieriger eine Aufgabe ist, umso schneller halten sie nach etwas anderem Ausschau.


Wege bahnen, Brücken schlagen

Angesichts der offensichtlichen Defizite, fehlenden Interessen und des Mangels an Motivation erscheint es schwierig, für Kinder und Jugendliche der Straße Bildungsangebote zu entwickeln, die den weiter oben beschriebenen Intentionen gerecht werden. Sie sollen sich ihrer verborgenen Fähigkeiten, ihres kaum entwickelten Intellekts und ihrer unterdrückten Phantasien bewusst werden und sich ihrer bedienen. Wie sollte dies geschehen? Wie kann erreicht werden, dass sie einen realistischen Blick auf ihr Leben, ihre Lage und ihr individuelles Geschick werfen? Wie sollen sie lernen, angemessen miteinander umzugehen, sich freundlich auszutauschen und dabei die eigenen und die fremden Gefühle wahrzunehmen und respektieren lernen? Wie können sie dafür motiviert werden, die fundamentalen Kulturtechniken zu erlernen, ohne deren Beherrschung sie in ihrer Gesellschaft nie Akzeptanz erfahren noch sich werden orientieren können?

Die Frage, wie man erwünschte Bildungsziele erreichen kann, ist Gegenstand der Methodologie. Methode ist der Weg, der zwischen Adressaten – zum Beispiel Kindern und Jugendlichen der Straße – und Zielen wie auch Inhalten vermittelt, damit man am Ende nicht ganz wo anders ankommt. Methoden sind Formen und Arbeitsweisen. Als Verfahren haben sie jeweils einen Anfang, sind zielgerichtet und kommen irgendwann an ein bestimmtes Ende. Sie sind vom Umgang der dabei beteiligten Menschen abhängig. Straßenpädagogen haben es mit Einzelnen, kleinen Gruppen, oft mit Freundes- oder Geschwisterpaaren zu tun.

Am Anfang der Straßenkinderpädagogik steht die Frage nach den Intentionen der Bildungsangebote. Ihr folgen die Auswahl von Inhalten, Themen und Problemstellungen und die Wahl geeigneter Methoden (vgl. W. Klafki: Zum Verhältnis von Didaktik und Methodik, in: W. Klafki / G. Otto / W. Schulz (Hg.): Didaktik und Praxis, Weinheim 1977, S. 13ff.). Methoden sind von Inhalten und Zielen abhängig, aber sie sind genauso wichtig. Sie tragen die Intentionen des Vorhabens in sich, zumindest dürfen sie diesen nicht im Wege stehen.

Naturgemäß gibt es keine für die Straßenkinderpädagogik exklusiven Methoden. Vielmehr bedient sie sich der Verfahren aller möglichen Lern- und Handlungsfelder und wendet sie auf die ihr eigenen Gegebenheiten an. Methoden der Straßenkinderpädagogik sind situationsorientiert, vielfältig und flexibel. Bei ihrer Auswahl werden nicht nur die gesetzten Ziele und die zu behandelnden Inhalte, sondern vor allem die Adressaten, ihre Lage und ihre Erfahrungen berücksichtigt. Sie müssen den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kräften der Betroffenen angemessen sein und berücksichtigen, in welchen Verhältnissen und Beziehungen sie leben.

Die Lernsituation Straße stellt besondere Anforderungen an die Wahl der Methoden. Die Gegebenheiten von Raum, Zeit und sozialen Konstellationen fordern ihren Tribut. Auf der Straße gehören Störungen zum Alltag. Geplante methodische Arrangements werden häufig durch die herrschenden Verhältnisse und Ereignisse umgeworfen. Straßenpädagogen lernen, die situativen Gegebenheiten zu ertragen und für ihre Chancen sensibel zu werden. Mit der Zeit reagieren sie flexibel und kreativ auf plötzliche Herausforderungen.

Die Methoden der Straßenkinderpädagogik sind Versuche, der Unstetigkeit und Brüchigkeit des Straßenlebens Augenblicke der Dauer, des Innehaltens, Verweilens und der Konzentration zu entlocken, zumal wenn der Alltag Probleme aufwirft, die unmittelbar aufgegriffen, angegangen und gelöst werden müssen.


Das Leben gestalten

Bildungsangebote nach dem Prinzip Lebensgestaltung gehören zu den methodischen Möglichkeiten, die die „handlungsorientierte Didaktik" eröffnet. Dabei spielt die Lebenssituation der Adressaten die wichtigste Rolle. Damit lässt sich die Betonung des Wohlbefindens und der Stärken der Kinder und Jugendlichen der Straße gut vereinbaren. Handlungsorientierte Bildungsarbeit mit Straßenkindern nimmt die Erfahrungen und Kompetenzen der Betroffenen auf, macht sie bewusst, reflektiert sie und eröffnet neue Horizonte der Lebensgestaltung.

Kinder und Jugendliche der Straße sollen erfahren, dass sie fähig sind, Probleme, die aus ihrer Lebenssituation resultieren, zu erkennen, zu benennen und vielleicht auch zu lösen. Diese Erfahrung ist geeignet, ihre Selbstwirksamkeitserwartung zu stärken.

Im Prozess der Lösung eines Problems und der Herstellung eines Ergebnisses entwickeln Kinder und Jugendlichen der Straße Eigeninitiative, Kreativität, Durchsetzungsvermögen und Kompromissbereitschaft. Sie müssen Alternativen aushandeln und Kenntnisse über Art, Natur und Bedeutung der anstehenden Probleme erwerben. Sie eignen sich die Fähigkeiten und Fertigkeiten an, die notwendig sind, um die gestellten Aufgaben zu lösen. Dabei fassen sie Mut und Selbstvertrauen, um sich kompetent zu entscheiden. Das gemeinsame Arbeiten an komplexen Aufgaben verlangt, dass sie miteinander kommunizieren und angemessen kooperieren.


Projekte auf der Straße?

Wenn es in Bildungsprozessen um Handlungsorientierung geht, denkt man unmittelbar an Projekte. Projekte haben immer handlungsbezogene Ziele. Für die Arbeit mit Straßenkindern erscheinen sie besonders geeignet. Denn sie machen Schluss mit der Rolle der Adressaten als passiven Objekten der Verhältnisse. Stattdessen zeigen sie Wege und Möglichkeiten auf, wie Kinder und Jugendliche die Position von Subjekten des eigenen Alltags erproben können.

Projekte sind Vorhaben, die einem Plan folgen und ein konstruktives Tun zum Inhalt haben. Dabei wird Wissen nicht nur erworben, sondern auch angewendet. Ein Projekt „Methode" zu nennen oder gar von „Projektmethode" zu sprechen, ist missverständlich. Tatsächlich sind Projekte methodische Großformen, Methodenbündel oder Rahmen, die für alle möglichen Arbeits- und Verfahrensweisen offen sind - fürs Entdecken und Forschen, für Musisches und Künstlerisches, Politisches wie Spielerisches. Projekte fördern Erfahrung, Wissen, Kreativität und Gefühle, sie verlangen kommunikative Fähigkeiten und kritisches Nachdenken.

Projekte im hier gemeinten Sinn sind sozialreformerisch und verfolgen einen politischen Zweck, der Personen und Situationen verändert. Das macht dieses Verfahren für die Straßenbildung besonders geeignet. Projekte schließen Straßenkinder und –jugendliche für länger dauernde und nachhaltig wirkende Aktivitäten auf

Idealtypisch beginnt ein Projekt mit einer Zielsetzung, am besten mit einer Zielvereinbarung oder mit einem Arbeitsbündnis, das ein Straßenpädagoge mit jungen Menschen eingeht. Dabei wird ein Problem, eine Sachlage oder eine gravierende Herausforderung des Alltags bestimmt, der es sich zu widmen gilt. Das Vorhaben, das man ins Visier nimmt, ist also auf die aktuelle Realität bezogen und setzt sich mit einer Alltagssituation, insbesondere mit einer Störung im konkreten Leben, auseinander, um die Wirklichkeit lebensdienlich zu verändern.

Projekte hängen also mit den Interessen der Handelnden zusammen. Sie versprechen, dass sie in Prozessen des Erkundens und Forschens, im künstlerischen Ausdruck und kreativen Schaffen neue Erfahrungsräume eröffnen (vgl. Michael Knoll: John Dewey und die Projektmethode. Zur Aufklärung eines Missverständnisses, Würzburg 1994).

In Projekten wird mit dem Kopf, aber auch mit den Händen gearbeitet. Was man tut, ist ernsthaft und sozial relevant. Es liegt in der Natur der Sache, dass Projekte auch anstößig, provozierend und konfliktverschärfend sein können. Da die Problemlagen des Alltags komplex sind, müssen sich alle am Projekt Beteiligten mit umfänglichen Inhalten, Themen und Sachverhalten auseinandersetzen. Ein einzelner Mensch kann kein Projekt bewältigen. Es kommt auf die Zusammenarbeit, auf Kommunikation und Interaktion an.

Auf die Zielsetzung folgt die Planung, bei der festgelegt wird, wie die Bearbeitung der gestellten Aufgabe vonstattengehen soll. Im Laufe eines Vorhabens werden Straßenpädagogen bemüht sein, den Jungen und Mädchen der Straße möglichst viel eigenen Entscheidungsraum zu eröffnen und Verantwortung zu übertragen. Sie lernen, komplexe Probleme in einzelne Sachverhalte zu zerlegen und diejenigen Arbeitsschritte zu benennen, die zur Lösung des anstehenden Problems notwendig sind.

Schließlich folgt die Projektausführung, die in der Lösung der anfangs gestellten Aufgabe besteht. Hier kommt der Prozess des Vorhabens, in dem Erfahrung, Denken und Handeln zusammenspielen, zu seinem Höhepunkt. Dem politischen Anspruch von Projekten werden Straßenbewohner gerecht, wenn sie die gefundenen Lösungen, die hergestellten Produkte und die vorbereiteten Aktionen im Raum der Öffentlichkeit präsentieren. Dabei haben sie Gelegenheit, auf sich und ihre Belange durch Veranstaltungen, Vorführungen, Präsentationen und Dokumentationen aufmerksam zu machen.


Wie bildungsorientierte Projekte auf der Straße entwickelt und praktisch durchgeführt werden können, wird im folgenden Textabschnitt dokumentiert:

(> Projektbeispiel "Kindermütter")

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 01.11.2012 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |