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Amerika

Vertreibungen, Landflucht
(Text und Fotos: Hartwig Weber, Juli 2009)

Inhaltsverzeichnis
Geschichte der Landflucht
Verursacher der Vertreibungen: Guerilla und Paramilitärs
Drogenanbau und Drogenhandel
Die Flüchtlinge stranden in den Slums der großen Städte
Innerstädtische Migration
Auswanderungen
Links und Literatur

Vertrieben von Guerilleros der FARC - Zwischenstopp in Manaure, 2007

 

Die Zahl der Flüchtlinge der Welt wird auf 25 Millionen, die der Binnenflüchtlinge Kolumbiens auf 2,5 bis 4 Millionen geschätzt. Damit gehört Kolumbien - vor dem Irak und Kongo und nach dem Sudan - zu den am stärksten betroffenen Ländern. Von 2002 auf 2003 war die Zahl der (registrierten) Vertriebenen um die Hälfte (von 412.553 auf 207.607) gefallen; dann aber stieg sie wieder an: 2004 waren es 287.000, 2006: 221.368, 2007: 305.996 (Radio Caracol vom 28. Februar 2008). Frauen und Minderjährige machen den größten Teil der Flüchtlinge aus.

Geschichte der Landflucht
Landflucht hat in Kolumbien Tradition. Sie begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund der extrem ungleichen Verteilung des Bodens, ausbleibender Landreformen und des Mangels an Aussichten der Bauern, Pächter und Landarbeiter auf eine bessere Zukunft. Bis heute hält dieser Prozess an. Angeheizt wird er seit der Mitte des 20. Jahrhunderts durch unterschiedliche Formen massiver Gewalt. Mit der Ermordung des liberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán im Jahr 1948 nahm die "Violencia", der grausame Bürgerkrieg, seinen Anfang und kostete Hunderttausenden das Leben. Gegen Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts brachte der Narco-Terrorismus eine weitere Steigerung. In den neunziger Jahren folgte die heiße Phase bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen dem staatlichen Heer, den Guerillagruppen und Paramilitärs, die alle in den Drogenhandel verwickelt sind. Seit einigen Jahren greift der Terror der illegalen bewaffneten Gruppen vom Land auch auf die Städte über. In der Folge der starken Migration hat sich Kolumbien aus einem Agrarland in ein Land mit überwiegend städtischer Bevölkerung verwandelt.

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Verursacher der Vertreibungen: Guerilla und Paramilitärs
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation (CODHES) gehen 50 Prozent der gegenwärtigen Vertreibungen in Kolumbien auf die paramilitärischen Gruppen, etwa 35 Prozent auf die Guerilla - vornehmlich FARC und ELN - zurück. Die FARC ("Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia"), Ejército del Pueblo, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens / Volksarmee), die größte Guerillaorganisation des Landes, entstand 1948 im Kontext der blutigen Auseinandersetzungen des Bürgerkriegs ("violencia"). Die Guerilleros verstanden sich als bäuerliche Selbstverteidigungsgruppen gegen die Gewalt, die von Großgrundbesitzern und Militär ausging. Ihr Ziel war eine revolutionäre Landreform. Seit 1966 bezeichnet sich die FARC als "marxistisch-leninistisch und bolivarisch" orientierter militärischer Arm der Kommunistischen Partei Kolumbiens. Aufgrund ihrer in den vergangenen Jahren mit unfasslicher Grausamkeit an der Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen haben 31 Länder, unter ihnen die Staaten der EU, die FARC zur terroristischen Vereinigung erklärt.

Der kolumbianische Paramilitarismus entstand in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Zivilisten zur Bekämpfung der Aufständischen angeworben, ausgebildet und eingesetzt wurden. Sie sollten, auf ausdrücklichen Wunsch der Regierung, die Streitkräfte unterstützen und durften Waffen tragen. Dachverband der verschiedenen rechtsgerichteten paramilitärischen Gruppen sind die im Jahr 1997 gegründeten Autodefensas Unidas de Colombia (Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens, AUC). Ihr offizielles Ziel ist es, die Guerillabewegung militärisch zu besiegen und die Schwäche des Heeres zu kompensieren. Bei ihrem bewaffneten Kampf schont die AUC keineswegs die Zivilbevölkerung, die sie bezichtigt, die Guerilla zu unterstützen. Wie die Guerilla, so finanziert sich auch die AUC durch den Drogenhandel. Seit den achtziger Jahren machen sich die Paramilitärs schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig. Mit einer langen Reihe von Massakern, der Praxis des Verschwindenlassens von Personen und außergerichtlichen Hinrichtungen haben sie sich weltweit einen berüchtigten Ruf erworben. Wie die Guerilla, so werden auch die Paramilitärs zum Beispiel von der EU auf der Liste der Terrororganisationen geführt. Seit 2002 verhandelt die kolumbianische Regierung mit ihnen. Bis 2005 sollten alle paramilitärischen Gruppen demobilisiert und amnestiert werden. Tatsächlich wurde dieses Ziel nur teilweise erreicht.

Flüchtlingsfamilie

Campesinofamilie, gestrandet in Medellín, 2007

2005 erließ die kolumbianische Regierung das "Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden". Danach werden die begangenen Schwerverbrechen der Paramilitärs wie politische Vergehen beurteilt, vorausgesetzt, sie liefern ihre Waffen ab, gestehen und denunzieren Delikte, von denen sie Kenntnis haben. Zahlreiche Mitglieder der Selbstverteidigungsgruppen nutzen zwar die Gunst des Befriedungsprozesses, den ihnen die Regierung bietet, anschließend aber vereinigen sie sich zu neuen paramilitärischen Banden.

Drogenmafia
Neben Guerilla und Paramilitärs sind auch Polizei und Armee sowie kriminelle Gruppen und die Drogenmafia an den Vertreibungen schuld. Deren hauptsächliche Motive liegen in dem Bestreben, Land und Wege zu kontrollieren, über die Drogenhandel und Waffenschmuggel abgewickelt werden. Der Anbau von Koka und Amapola wächst insbesondere in Gebieten, zu denen Heer und Polizei nur schwer Zugang finden.

Militär und Polizei sind angehalten, die Bauern und Kolonisten zu kontrollieren und im Rahmen des von den USA finanzierten "Plan Colombia" (Krieg den Drogen) aufgefundene Kokafelder mit Gift zu besprühen oder die Pflanzen auszureißen. Der Plan Colombia und die militärischen Übergriffe haben insbesondere im Süden des Landes (Departament Putumayo und im Grenzgebiet zu Ecuador), wo im Antidrogenkrieg 1000 Soldaten und alle zur Verfügung stehenden Flugzeuge aufgeboten wurden, zu massiver Vertreibung und Flüchtlingsströmen geführt. In Manaure (Cesar) wurden bei der Besprühung von 500 Hektar Land mehr als 100 Hektar insbesondere mit Früchten (Baumtomaten, Lulo, Yuca, Bananen) angebauten Kulturlandes zerstört. Damit wurde den Bauern die Arbeits- und Lebensgrundlage entzogen, und sie drohten, vor Hunger zu sterben. So führt das Vorhaben der Regierung, die heimlich angelegten Kokaplantagen zu vernichten, zu verheerender Umweltzerstörung und zu massiver Verstärkung der Fluchtbewegungen.

Comuna 13  

Comuna 13, Medellín 2007

 

Die Flüchtlinge stranden in den Slums der großen Städte
Die Menschen fliehen als einzelne, im Familienverband oder als Gruppen. Während die Städte ins Uferlose wachsen, entleeren sich ländliche Regionen. Mitunter entvölkern sich ganze Dörfer. Die wichtigsten Ziele der Flüchtlinge sind die vier größten Städte Kolumbiens: Bogotá, Medellín, Cali und Barranquilla. Dort glauben sich die Flüchtlinge am ehesten vor weiterer Verfolgung geschützt. In Wirklichkeit aber sind sie vor den Nachstellungen der "Paracos" und Guerilleros in den Slums der Metropolen, wo sie nach wochen-, monate- und jahrelanger Flucht stranden, kaum sicher. Viele Slums werden überdies von bewaffneten Jugendbanden und selbsternannten Säuberungstrupps ("limpieza social") terrorisiert.

Slums entstehen oft aus illegalen Besetzungen ("invasiones"). Diese Entwicklung, die in den letzten Jahren stetig zunahm, wird voraussichtlich auch in Zukunft anhalten. Die meisten Flüchtlinge landen in der Hauptstadt Bogotá. Dort kommen Tag für Tag bis zu 50 neue Familien an. Sie tauchen in der Masse der Menschen in den Elendsgürteln der Städte unter und werden Teil des Heeres der Marginialisierten, entrechtet, stigmatisiert und auf lange Sicht perspektivlos. In den Slums sind die Wohnverhältnisse unzureichend. Meist fehlt eine Anbindung an die städtische Infrastruktur. Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Umweltzerstörung sind Alltag. In den Flüchtlingsfamilien fehlen die Väter. Oft sind sie ermordet oder entführt worden. Aufgrund der Lebensbedingungen auf dem Land sind die Flüchtlinge meist unterdurchschnittlich gebildet. Flüchtlingskinder finden nur schwer Zugang zur Schule und zu einer Berufsausbildung, und ihre Eltern haben kaum Aussicht auf eine Beschäftigung und schon gar nicht auf eine dauerhafte Arbeitsstelle.

Staatliche, kirchliche und private Hilfsprogramme bemühen sich darum, die Marginalisierten zu integrieren und sie in die Gesundheitsversorgung einzubeziehen. Sie versuchen, ihnen Zugänge zum Bildungswesen zu eröffnen und Hilfe bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu leisten. Angesichts der ohnedies herrschenden Arbeitslosigkeit ist dies ein fast aussichtsloses Unterfangen. Es ist auch praktisch unmöglich, die Vertriebenen in ihre Heimat zurückzuführen, wo der Staat weder präsent noch durchsetzungsstark ist.

Innerstädtische Migration
Wenn die Landflüchtlinge in den ohnedies schon überfüllten Slums eine Bleibe finden, sehen sie sich erneuter Repression, Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. In den Elendsvierteln etwa im Süden Bogotás (Ciudad Bolívar) oder in den Comunas von Medellín werden die aufbrechenden Konflikte blutig ausgetragen. Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution schaffen eine Atmosphäre der Bedrohung. Guerilla und paramilitärische Gruppen haben dort längst Fuß gefasst. Zusammen mit bewaffneten Jugendbanden und Milizen schaffen sie eine Atmosphäre des Terrors und der Gewalt. Angeheizt durch den großen Bedarf, steigen die Grundstückspreise und Mieten. Zusehends werden die Angehörigen der unteren Mittelklasse aus ihren angestammten Gebieten vertrieben. Sie siedeln ins Umland der Städte um, wo neue Zentren der Armut entstehen.

Unter dem Druck der Verhältnisse zerbrechen nicht selten die Familien der Flüchtlinge, die ohnedies keine Gelegenheit finden, die Traumata der Vertreibung und Entwurzelung, des Terrors und Kulturschocks in der Stadt zu verarbeiten. Viele Straßenkinder stammen aus Flüchtlingsfamilien. Auf die Frage, weshalb sie auf der Straße leben, verweisen sie oft auf Misshandlungen und mangelnde Fürsorge, die ihnen ihre überforderte Eltern zugefügt haben (>Innerfamiliäre Gewalt)

Auswanderungen
Seit Jahren muss Kolumbien den Aderlass von Menschen verkraften, die in andere Länder auswandern. Sie fliehen vor der Arbeitslosigkeit und fehlenden Zukunftsperspektiven, viele auch vor der im Land herrschenden Gewalt und der Bedrohung durch Guerilla, Paramilitärs und Drogenmafia. Nach Angaben des DAS (Departamento Administrativo de Seguridad) wanderten 2008 etwa 200.000 Kolumbianer in die USA aus, eine Steigerung um fast 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dort leben bereits weit über 3 Millionen Kolumbianer. Weitere Auswanderungsziele sind Venezuela, Ecuador, Kanada und vor allem Spanien. Aber auch in anderen europäischen Ländern und in Australien gibt es große kolumbianische Kolonien. Meist handelt es sich bei den Auswanderern um junge Menschen mit bester Schul-, Berufs- und Universitätsausbildung. Die wenigsten denken daran, in ihre Heimat zurückzukehren.

Links und Literatur

> CRECE ÉXODO DE COLOMBIANOS

> SE INCREMENTA EL ÉXODO DE COLOMBIANOS A VENEZUELA

> ÉXODO Y TRATA DE PERSONAS

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 15.01.2013 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |