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Roma- und Sinti-Kinder (Text: Hartwig Weber; Fotos: Don Bosco) Inhaltsverzeichnis „Zigeuner": Begriff, Herkunft Diskriminierung, Verfolgung, Holocaust Roma in Südosteuropa Sinti- und Roma-Kinder in Deutschland Roma-Flüchtlinge Bildungsbenachteiligung von Flüchtlingskindern Pädagogische Interventionen Bildungsmaßnahmen Links und Literatur „Zigeuner": Begriff, Herkunft
Sinti und Roma wurden früher von der Bevölkerungsmehrheit abschätzig „Zigeuner" genannt. „Roma" oder „Rom" wird als Sammelbegriff, „Sinti" als Name für eine Teilgruppe verwendet. Weltweit gibt es etwa 12 Millionen Roma. Von ihnen leben 8 Millionen in Europa, über 100.000 in Deutschland. Die Hälfte der Roma ist während der Kriege in Bosnien und dem Kosovo in den Jahren zwischen 1991 und 1999 hierher gekommen.
„Roma" (oder „Rom", weiblich: „Romni") bedeutet „Mensch". Die diskriminierende Fremdbezeichnung „Zigeuner" taucht in der deutschen Sprache bereits mit dem ersten Auftreten dieser Ethnie im 15. Jahrhundert auf. Die Roma gliedern sich in drei Hauptgruppen auf: Kalderasch, Gitanos und Sinti (Manosch). Sie sprechen das mit der altindischen Hochsprache Sanskrit verwandte Romani oder Romanes. Daneben eignen sie sich das Idiom des jeweiligen Landes an, in dem sie leben.
Das deutsche Wort „Zigeuner" ist wahrscheinlich dem Ungarischen entlehnt. Davon sind auch die Bezeichnungen der Roma in Frankreich („Tsigane"), Italien („Zingaro") und Spanien („Cigano") abgeleitet. Möglicherweise hat dieser Begriff seinen Ursprung im Namen einer Gruppe von Wahrsagern und Zauberern im Byzanz des frühen 12. Jahrhunderts. Volksetymologisch leitete man den Namen von „Zieh-Gäuner" her, „umherziehender Gauner". Da die im 15. Jahrhundert in Europa eingewanderten Roma behauptet hatten, sie seien christliche Flüchtlinge aus Ägypten, bürgerte sich für sie die Bezeichnung „Gypsy" in England, „Gitano" in Spanien und „Gitan" in Frankreich ein.
Tatsächlich stammen die Roma jedoch aus Indien (Punjab). Ihr Exodus begann wohl im 9. Jahrhundert, möglicherweise auch früher. Die Analyse ihrer Sprache, welche Anteile an griechischen, persischen und armenischen Wörtern aufweist, gibt Aufschluss über die Völker, mit denen sie in Kontakt kamen. Daraus lassen sich auch die Wanderwege rekonstruieren, die sie zurückgelegt haben. Heute noch gibt es Romani sprechende Stämme in Armenien und Syrien.
Diskriminierung, Verfolgung, Holocaust In deutschen Quellen werden die „Zigeuner", die sich als christliche Pilger ausgaben, erstmals im frühen 15. Jahrhundert erwähnt (1407 in der Bischofsstadt Hildesheim). Mitunter gewährten ihnen Könige und Landesfürsten Schutzbriefe. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts wird von Übergriffen und Feindseligkeiten vonseiten der Mehrheitsgesellschaft berichtet. Häufig verweigerte man den Roma die Bürgerrechte, vertrieb sie aus den Städten und jagte sie hinaus aufs Land. Seit dem 18. Jahrhundert wurde das „fahrende Volk" der Zigeuner zur Sesshaftigkeit gezwungen.
Im Ersten Weltkrieg kämpften Roma auf beiden Seiten der Front. 1936 wurde in Wien eine Internationale Zentralstelle zur Bekämpfung der „Zigeunerplage" eingerichtet. Die nationalsozialistische Politik initiierte eine rassenbiologisch motivierte Verfolgung mit Zwangssterilisationen, Eheverboten, grausamen medizinischen Menschenversuchen und Massentötungen in Vernichtungslagern (z.B. in Auschwitz-Birkenau). Antisemitismus und Antiziganismus gingen Hand in Hand. Zwischen 1938 und 1945 wurden in Deutschland etwa 15.000 „Zigeuner" und „Zigeunermischlinge" ermordet. Unbekannt ist die Zahl der Toten in den Vernichtungslagern in Polen, der Sowjetunion, Ungarn und Serbien.
Roma in Südosteuropa Zahlreiche Roma leben in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Bulgarien, Mazedonien, Montenegro, Rumänien und Serbien, die Hälfte von ihnen im Kindes- und Jugendalter. Fast alle leiden unter Armut, Diskriminierung und Perspektivlosigkeit. Hunderttausende leben isoliert in Ghettos und Slums ohne menschenwürdige Wohnungen. Mehr als die Hälfte der Roma existiert von weniger als 100 Euro im Monat. Zwei Drittel von ihnen haben nicht genug zu essen. Viele sind krank. In den Schulen werden sie benachteiligt, und übermäßig viele Kinder hat man in Sonderschulen verwiesen. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und den Balkankriegen sank das allgemeine Bildungsniveau rapide ab. Unzählige Roma-Kinder und Jugendliche können weder lesen noch schreiben.
Sinti- und Roma-Kinder in Deutschland Heute leben in Deutschland etwa 60.000 bis 70.000 Angehörige von Roma-Gruppen als deutsche Staatsbürger, die - wie Dänen, Friesen und Serben - über den Status einer sozialen Minderheit verfügen. Somit gelten für sie die Bestimmungen des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995 (http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/157.htm) sowie die Charta der Regional- und Minderheitensprachen des Europarates von 1992 (http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/148.htm). Von ihnen sind diejenigen Roma zu unterscheiden, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland kamen. Von diesen etwa 50.000 Roma-Flüchtlingen sind zwei Drittel lediglich „geduldet". 15.000 von ihnen sind Kinder
. Nach dem 2. Weltkrieg nahm man in Deutschland die traditionelle Ausgrenzungspolitik wieder auf. Die Minderheit der Roma galt als rassisch und kulturell unintegrierbar. Viele Kommunen wiesen den „Zigeunern" abgelegene Wohnwagenstellplätze ohne Strom- und Wasseranschluss zu. Man setzte alles daran, eine dauernde Ansiedlung zu verhindern. Gleichzeitig wurde die Integration der Roma-Kinder in den Schulen erschwert oder unterbunden. Oft verwies man sie ohne zureichende Prüfung des Einzelfalles auf Sonderschulen.
Untersuchungen aus den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zeigen, dass die meisten Roma-Kinder in Armut und unter sozial deklassierten Lebensverhältnissen aufwuchsen (vgl. Andreas Hundsalz: Soziale Situation der Sinti in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1982). Gegen Ende der siebziger Jahre waren die meisten deutschen Sinti sesshaft geworden. Ihre Wohnungen wiesen selten einen einigermaßen akzeptablen Mindeststandard auf. 25 bis 30 Prozent der Sinti-Kinder besuchten eine Sonderschule. Von den Erwachsenen hatten kaum 30 Prozent eine Schule besucht, weitere 50 Prozent die Schule ohne Abschluss abgebrochen. Bis heute liegt der Anteil der Roma-Familien in prekärer Lebenslage deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt.
In zahlreichen deutschen Städten vollzog man in den siebziger und achtziger Jahren einen deutlichen Kurswechsel. Die Kinder- und Jugendarbeit wurde verbessert, Schul- und Bildungsmaßnahmen verstärkt. Man legte lokale Wohnbauprogramme auf (Sinti-Siedlungen in Köln, Düsseldorf, Freiburg usw.), öffnete neue Wege zum Gesundheitssystem und bot verbesserte Zugänge zu einer grundlegenden Schulbildung. Weithin erfolglos blieben jedoch die Bemühungen, die junge Generation der Roma in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Einzelne Roma-Familien kamen zu mittelständischem Wohlstand, viele aber verblieben im unteren Bereich des sozioökonomischen Spektrums.
Roma-Flüchtlinge In Deutschland leben – außer den genannten Roma - weitere 50.000 Roma-Flüchtlinge, unter ihnen 20.000 Kinder, die im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nach Deutschland kamen, weil sie vor dem bosnischen Bürgerkrieg (zwischen 1991 und 1993) und wegen des Kosovokonflikts (1999) fliehen mussten. Andere Roma kamen aus Serbien-Montenegro. Die Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien sind entweder christlich-orthodoxen oder muslimischen Glaubens. Sie stießen in Deutschland auf latente Ablehnung und weckten Befürchtungen und Bedrohungsgefühle (SPIEGEL-Überschrift 1992: „Asyl in Deutschland? Die Zigeuner"). Durch strikte staatliche Maßnahmen – Asylrechtsreform von 1993; bilaterale Rückübernahmeabkommen mit den südost- und osteuropäischen Staaten; vermehrte Abschiebungen; Abwehr der Einreise über „sichere Drittstaaten"; Rückkehrfördermaßnahmen – wurde die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland, unter ihnen der Roma, stark reduziert. Allerdings führten die restriktiven Zuwanderungs- und Asylbestimmungen zur Erhöhung der Anzahl „illegal Eingereister". Von den 50.000 Roma-Flüchtlingen haben zwei Drittel einen unsicheren Aufenthaltsstatus. 23.000 Roma aus dem Kosovo, darunter 10.000 Kinder, sind nur „geduldet"; von etwa 4000 geduldeten Roma aus Ex-Jugoslawien sind 2000 im Kindesalter. Etwa 3000 Roma haben einen Asylantrag gestellt, davon 2000 Kinder.
Bildungsbenachteiligung von Flüchtlingskindern Während sich der Staat um Bildungsangebote für Migrantenkinder bemüht, besteht an der schulischen Förderung von Flüchtlingskindern kein Interesse. Viele, deren Aufenthalt in Deutschland nur vorübergehend geduld wird, verleben hier zehn und mehr Jahre. „Duldung" bedeutet, dass die Abschiebung lediglich aufgeschoben ist. Ihr unsicherer Aufenthaltsstaus geht mit Beschränkungen, Auflagen und sozialer Ausgrenzung einher. Der aufenthaltsrechtliche Status ist entscheidend für die bestehenden Bildungsmöglichkeiten, aber auch für die Wohnsituation und die Gesundheitsfürsorge. Bekommen Flüchtlinge Kinder, so müssen diese im Zustand sozialer Ausgrenzung aufwachsen. Flüchtlingsfamilien dürfen die Kommune oder den Landkreis, dem sie zugewiesen sind, nicht verlassen. Reisen und Besuche bei Verwandten in anderen Städten sind ihnen nicht gestattet. Die psychischen Auswirkungen eines Lebens als Flüchtlingskinder sind unabsehbar; sie bedeuten eine permanente emotionale Überlastung und beeinträchtigen Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl
. Die finanziellen Leistungen des Staates für Asylbewerber sind in Deutschland auf ein Minimum reduziert. Flüchtlinge im Asylverfahren und Geduldete werden in der Regel in Flüchtlingsheimen untergebracht. Unterbringung und Versorgung sind so gestaltet, dass sie eher abschrecken und abwehren. Die Wohnsituation stigmatisiert und grenzt aus. Flüchtlinge dürfen keine Arbeitsverhältnisse eingehen, jede Ausbildung oder Weiterbildung ist ihnen untersagt. Kinder von Asylbewerbern und geduldeten Flüchtlingen sind nicht gesetzlich krankenversichert. Sind ihre Eltern von Sozialleistungen ausgeschlossen, so haben sie auch keinen Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung.
Ab dem Jahr 2003 leiteten einige Städte und Kommunen (z.B. Münster, Köln und Berlin) einen tief greifenden Kurwechsel ein. Verstärkt soll nun die soziale Ausgrenzung von Asylbewerbern und Flüchtlingen bekämpft, der soziale Zusammenhalt mit der Mehrheitsbevölkerung verbessert werden.
Pädagogische Interventionen Bis heute nimmt nur ein Teil der Roma-Kinder die Möglichkeit eines Schulbesuchs wahr. Flüchtlingskinder findet man hauptsächlich in Grund-, Haupt- und Sonderschulen, seltener in Gesamtschulen, Realschulen oder in Gymnasien. Aufgrund ihrer allgemeinen Chancenungleichheit tragen sie ein höheres Risiko für Misserfolge in der Schule. Besonders benachteiligt sind Roma-Kinder, die im Alter von 10 bis 14 Jahren nach Deutschland einreisten und zuvor keine Schulbildung genossen. Besonders erschwerend ist es für sie, wenn ihre Eltern von gekürzten Sozialleistungen leben, wenn sie in Flüchtlingsheimen untergebracht werden, die sie isolieren und stigmatisieren. Die größte Benachteiligung erleiden Kinder, die mit allein erziehenden Müttern aufwachsen, während die Väter abgeschoben wurden. Hingegen haben Rom-Kinder, die im Vorschulalter einreisten oder in Deutschland geboren wurden, unter günstigen Wohnbedingungen leben und sozial betreut werden, bessere Voraussetzungen zum Schulerfolg.
Kinder nicht-deutscher Herkunft sowie Kinder aus sozial benachteiligten Schichten sind an Sonderschulen deutlich überrepräsentiert. Auch in der normalen Schule, die von der Kultur der Mittelschicht geprägt ist, sind Kinder aus der Unterschicht besonders benachteiligt, stoßen auf Verständnisschwierigkeiten und sind stärker von Selektion betroffen.
Bildungsmaßnahmen In zahlreichen Städten wurden in den letzten Jahren pädagogische Aktivitäten gestartet, die die Bildungschancen von Flüchtlingskindern, insbesondere Roma-Kindern, verbessern sollen. Es gibt Angebote, die bewusst die Flüchtlingsbiographien der Kinder berücksichtigen. Manche Tagesstätten schließen Beratungs- und Hilfsangebote für die Eltern ein. Alternative Schulformen bemühen sich um eine betont individualisierte Förderung für Kinder aus schwierigen Lebenslagen, die obendrein unter fehlendem Rückhalt zu leiden haben. Darüber hinaus wurden Projekte eigens für straffällig gewordene Kinder sowie Alphabetisierungskurse insbesondere für Mädchen gestartet.
Was notwendigerweise verbessert werden muss, ist die aufenthaltsrechtliche Sicherheit sowie Änderungen in der Unterbringung und Betreuung als Grundvoraussetzung für eine gelingende Integration. Roma-Flüchtlinge, die bereits seit Jahren in Deutschland leben, sollten einen Aufenthaltsstatus bekommen, der ihnen ein geregeltes Leben ermöglicht. Insbesondere traumatisierte und verfolgte Flüchtlingskinder brauchen eine Bleibeperspektive. Verbesserungen der Grundversorgung im Bildungsbereich wie der Zugang zu Kindergärten, zu vorschulischer Sprachförderung und die Aufhebung des Ausbildungs- und Arbeitsverbots für geduldete Jugendliche können die Lebenssituationen der jungen Menschen nachhaltig verbessern.
Links Charta der Regional- und Minderheitensprachen des Europarates: http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/148.htm Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten: http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/157.htm Literatur - Amt für multikulturelle Angelegenheiten (...) (Hg.): „Dawen bachtale". Zu Fragen der schulischen Integration von Romakindern, Frankfurt am Main 2004. - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.): Migration, Asyl und Integration in Zahlen, Bonn 2006 (14. Aufl.). - Bundesministerium des Inneren (Hg.): Ausländerpolitik und Ausländerrecht in Deutschland, Berlin 2000. - Genge, Joachim u.a.: Berliner Beiträge zur Integration und Migration, Berlin 2006. - Harmening, Börn: „Wir bleiben draußen". Schulpflicht und Schulrecht von Flüchtlingskindern in Deutschland, Osnabrück 2005. - Andreas Hundsalz: Soziale Situation der Sinti in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1982 - Interkultureller Dienst Mühlheim: Migrationsbericht 2005, Köln 2006.
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