![]() Thomas Müller: "The Child is in the Driver’s Seat”. Unterrichten mit der MultiGradeMultiLevel-Methodology und ihren Lernleitern 1. Entstehung der MultiGradeMultiLevel-Methodology (MGML) Seit nunmehr 30 Jahren arbeitet das Rishi Valley Institute for Educational Resources (RIVER) am Aufbau von Schulen für die indische Landbevölkerung, in denen jedes Kind auf der Basis seiner kulturellen Herkunft einen individuellen und zugleich strukturierten Lernweg beschreiten kann (vgl. www.river-rv.org).Ausgangspunkt waren dabei die Fragestellungen, wie man zum einen der großen Altersmischung und zum anderen der Leistungsheterogenität aller Kinder eines Dorfes in einer Schule in einem Raum mit einer Lehrkraft gerecht werden könne.
Aus dieser Situation heraus entstand in den achtziger Jahren unter dem Namen „School in a Box“ ein von Dorf zu Dorf tragbares, flexibel einsetzbares Lernset für individualisiertes Arbeiten, das auf Schulbücher verzichtete, weil diese in keinem Zusammenhang mit der kulturellen und regionalen Situation der Kinder standen. Mit aktivierendem Lernmaterial leitete RIVER die Entwicklung und den Aufbau von 12 Landschulen (Satellite-Schools) ein und entwickelte die MGML-Methodology (vgl. Rishi Valley Education Centre 2003a und 2003b). Mit Modellschulen und durch entsprechende Designer-Workshops und Fortbildungen fördert RIVER seitdem schulische Entwicklungen in und außerhalb Indiens. Das Institut gehört zu den innovativsten internationalen Impulsgebern für die Entwicklung voll individualisierter Schulen. So kommt es, dass die Ausstrahlung der MGML-Methodology in zahlreiche Bundesstaaten Indiens derzeit 100.000 Schulen und rund 10 Millionen Kinder erreicht. Die innovative Wirkung des schulischen Engagements wurde national und international mehrfach durch renommierte Preise gewürdigt: beispielsweise 2004 durch den Global Development Award und 2009 durch die Schwab-Foundation als Gewinner des „Award for Indian Social Entrepreneur of the Year“. Im Jahr 2011 sprachen die Direktoren von RIVER beim Weltwirtschaftsforum in Davos teil, und seit 2012 zählt RIVER zu den 100 wichtigsten NGOs weltweit (vgl. http://theglobaljournal.net/top100NGOs/). Die MGML-Methodology wird inzwischen weltweit nachgefragt und auch an verschiedenen Schulen in Bayern - von Förderschulen bis hin zum Gymnasium - in zahlreichen Variationen eingesetzt. 2. Pädagogische Grundlagen der MGML-Methodology Klassenzimmer einer Satellite-School mit Materialpool
Dieses Grundanliegen wird über eine sehr komplexe Methode mit entsprechend gestalteten Lernmaterialien inmitten eines dezentralen Lernraums verwirklicht. In ihr sind verschiedene Lern- und Gestaltungsformen in regional und kulturell spezifizierten Bezügen verwurzelt und zu einem Ganzen verbunden. Jedes Kind kann daher unabhängig von seiner Begabung in seiner Lerngeschwindigkeit ohne Zeitdruck seine eigene Lernprogression adäquat gestalten. Die Methode bietet dabei ein inklusives, leistungs- und altersübergreifendes Lernen an. Alle Leistungsstufen, die sich innerhalb eines Klassenverbandes zeigen, werden bewusst einbezogen. Dieses Lernangebot kann in vier Komplexen charakterisiert werden:
3. Didaktische Grundlagen der MGML-Methodology und ihrer Lernleitern Bildungsprozesse werden durch einzelne Lernmaterialien angeregt, auf denen die mit ihnen verbundenen Aktivitäten beschrieben sind. Jedes Material ist zur Systematisierung durch ein Symbol und eine Nummerierung gekennzeichnet und gibt somit strukturierte Hinweise zur Bearbeitung, bietet inhaltliche Aufgaben an und ist ein Teil von systematisierten Lernsequenzen, die in einer Lernleiter (‚ladder of learning’) in eine zeitliche und zugleich didaktische Reihenfolge gebracht werden. Alle Aktivitäten bilden mit ihren Lernmaterialien auf der Basis gültiger Lehrpläne einen systematisierten Materialpool. Ausschnitt aus einer linearen Lernleiter 3.1 Materialpool mit Lernmaterial zur Anregung der Lernaktivität 3.2 Struktur der Lernleitern Milestone in seiner didaktischen Struktur 3.3 ‚Milestones‘ als systematisierte Lernsequenzen in der Lernleiter Die Milestones führen in dieser didaktischen Konstellation mit integrierter Evaluation und adäquater Förderung der Schülerschaft zur qualitativen Absicherung der offenen und gleichzeitig strukturierten Lernformen. Sie wirken durch den beschriebenen Aufbau individualisierend und differenzierend, aber auch gemeinschaftlich verbindend und unterstützend. Durch diese Vorgehensweise werden Lernlücken weitgehend verhindert. Ausgehend von der Sachstruktur der Inhalte werden die Milestones nach fachdidaktischen Gesichtspunkten konzipiert. Grundsätzlich wird ein Milestone erst nach vollständigem Aufbau des Verstehenspozesses abgeschlossen. Ein Zurückfallen einzelner Schüler hinter das vermeintlich homogene Lerntempo bzw. den Wissensstand einer Klasse wird somit ausgeschlossen. 3.4 Evaluation der Lernprogression und des Lernerfolgs der Schüler 3.5 Altersübergreifende Gruppenbildung mit integriertem Helfersystem Alle Gruppen sind altersübergreifend konzipiert. Die Gruppenzusammensetzung wechselt mit den Aktivitätscharakteren, die über die Symbole der Materialien signalisiert werden. In den Gruppierungen ergeben sich durch die Alters- und Kompetenzunterschiede Helfersysteme, die die beschriebene Form der fachspezifischen Arbeitsphasen zusätzlich stärken. Das grundsätzliche Zeitmaß für die Methode ist die individuelle Lernzeit, die jedes Kind benötigt. Die Lernleitern bilden einen Jahresrahmen ab, der je nach Kind und Lerngeschwindigkeit ganz unterschiedlich durchschritten wird. Die Tages- und Wochenstrukturen gehen von rhythmisierten Lernzeiten aus. In diesen Zeiten arbeiten die Kinder in den altersübergreifenden Konstellationen an unterschiedlichen Lernorten und zugleich mit variabler Betreuungsdichte des Lehrers. 4. Wirkungen in und über die Schule hinaus In Indien und anderen Ländern mit einer unterprivilegierten und verarmten Landbevölkerung führt der Einsatz der MGML-Methodology dazu, dass Millionen von Kindern ein individueller und gemeinschaftlich verbindender Zugang zu Bildung möglich ist. Durch die inhaltliche Einbindung regionaler Kulturgüter in Form von Liedern, Geschichten, Bräuchen und außerschulischen Lernorten, wird die Identität von Dorfgemeinschaften erheblich gestärkt. Diese Identifikations- und Würdigungsprozesse verhindern zudem in hohem Maße Landflucht. Darüber hinaus bleibt für Kinder aller Lebenslagen in allen Ländern dieser Erde festzuhalten, dass mit der MGML-Methodology ein Arrangement entstanden ist, das Kinder, Schule und Unterricht zu einem angstfreien Bildungsraum verbindet. Für die schulische Sozialisierung ist das Moment der Angstfreiheit angesichts globaler und gesellschaftlicher Entwicklungen sowie der zukünftig mit ihnen verbundenen Aufgaben, von höchster subjektiver wie gesellschaftlicher Bedeutsamkeit. In Bayern sind als Ergebnis verschiedener Seminare mit Lehramtsstudierenden in Indien in den letzten Jahren zahlreiche Variationen des Lernens mit Lernleitern entstanden, die von Mathematik- und Deutschunterricht an Förderschulen bis hin zum Englischunterricht am Gymnasium die hohe Effektivität dieser Arbeit belegen (vgl. Girg / Lichtinger / Müller 2012). 5. Anwendung von Lernleitern für die schulische Arbeit mit Kindern auf der Straße Eine weitere Perspektive in der Arbeit mit Variationen der MGML-Methodology zeigt sich im Bereich der schulischen Arbeit mit Straßenkindern. Aus deutscher Perspektive mag dies zunächst ungewöhnlich erscheinen, was damit zu tun hat, dass Straßenkinder im Bildungsbewusstsein der reichen europäischen Länder kaum eine Rolle spielen. Faktisch leben jedoch auch in diesen Ländern Kinder und Jugendliche auf der Straße und erfahren keine schulische Ausbildung. Weltweit leben Millionen Kinder und Jugendliche auf und von der Straße und haben keinen Zugang zu Schule, oder aber sie haben diesen verloren. In Deutschland gibt es diesbezüglich zwei wesentliche Entwicklungen: zum einen den Masterstudiengang Straßenkinderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und zum anderen die Mannheimer Straßenschule.
Für die schulische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die auf der Straße leben, zeigen sich ähnlich vielfältige und unterschiedliche Ausgangsbedingungen wie in der ländlichen Situation Indiens – wenn auch grundsätzlich andere. Straßenkinder bringen unterschiedliche Bildungserfahrungen und Leistungsvoraussetzungen mit: So sehr sie einerseits das Leben auf der Straße mit anderen Kindern und Jugendlichen verbindet, so sehr unterscheiden sie sich andererseits in diesen Aspekten. Hinzu kommen spezifische Erschwernisse. Das Leben auf der Straße, ohne Obdach und feste Strukturen führt bei vielen Kindern zu massiven Konzentrationsproblemen. Hinzu kommt, dass die Straße als Lebens- und Arbeitsraum ihre ganz eigene Dynamik entfaltet und eigenen Gesetzen gehorcht. So anstrengend und belastend das Leben im Milieu ‚Straße‘ auch sein mag, so verführerisch und anziehend wirkt es. Das Leben auf der Straße verspricht immer auch scheinbare Freiheiten und die Erfüllung eher ‚schwieriger‘ Bedürfnisse. Die Verbindlichkeit von Schule, die zu festen Zeiten mit festgelegten Inhalten an spezifischen Orten stattfindet, kann daher zur zwiespältigen Erfahrung werden: entweder zum Sehnsuchtsort jenseits des unverbindlichen Lebens auf der Straße oder zum Inbegriff der Einschränkung eines Lebens in der Freiheit der Straßen, Plätze und Städte. In dieser Variation einer Lernleiter ist (noch) keine immanente didaktische Struktur enthalten. Priorität wurde auf schulisch bearbeitbare Themen gelegt, die für Kinder und Jugendliche auf der Straße von Relevanz sind und die daher ansprechend, bedeutsam und lohnenswert empfunden werden könnten. Zu jedem einzelnen Feld wurden in Folge verschiedene Materialien der schulischen Auseinandersetzung erstellt bzw. Ausdrucksmöglichkeiten in Form von Theater, Tanz, Kunst, Texte-Verfassen etc. erdacht. Die Basis dieser Lernleiter bildet ebenso wie in Rishi Valley eine Schleife grundsätzlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich im Falle von Kindern und Jugendlichen auf der Straße besonders auf einfache schulische Grundfähigkeiten, Konzentrations- und Kommunikationsübungen bezieht. Denkbar ist aber auch, dass Kinder und Jugendliche diese Lernleiter nicht nur von unten nach oben, sondern auch von oben nach unten bearbeiten oder aber sich einzelne Felder und Milestones aussuchen, die sie besonders ansprechen. Ebenso wie die Lernleitern der MGML-Methodology von RIVER verhindert diese Variante ein Drop-Out. Wo in Indien Kinder bisweilen nicht in die Schule kommen, weil sie bei der Ernte helfen oder ein mehrtägiges Fest feiern, verschwinden Kinder und Jugendliche, die auf der Straße leben, oft für Tage und Wochen, bis sie wieder bei einem Unterstützungs- oder Beschulungsangebot auftauchen. Die Arbeit mit einer Lernleiter ermöglicht ihnen daher jederzeit den Wiedereinstieg in schulische Aufgaben. Die Variante der Arbeit und des Lernens mit dieser Lernleiter würdigt nachhaltig die existentiellen Lebenserfahrungen von Kindern und Jugendlichen auf der Straße. Sie wurde in den Townships Südafrikas ebenso eingesetzt wie in einer Industriestadt in Sibirien. Die MGML-Methodology ist nicht ‚nur’ eine komplexe Methode, sondern vor allem Ausdruck der Würdigung der Einmaligkeit eines jeden Kindes, seiner Lerngeschwindigkeit und seiner Eingebundenheit in die Gemeinschaft. Die Existenz und das Grundanliegen dieser Methode und ihrer weltweiten Variationen stellen Schulen und schulische Arbeit daher täglich neu vor die Frage: Wie ernst nehmen wir das? Literatur: Girg, Ralf / Lichtinger, Ulrike / Müller (2012): Thomas: Lernen mit Lernleitern. Unterrichten mit der MultiGrade-MultiLevel-Methodology. Immenhausen: Prolog-Verlag Kontakt in Indien: Kontakt in Deutschland: |
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 21.11.2012 (s. admin) |