Exklusionsfaktoren (Text: Thomas Müller, Juli 2009; Fotos: Cora Basfeld und Thomas Müller)
Armut verursacht nachhaltige Schäden Im 11. Fünf-Jahres-Plan Indiens, der für die Jahre 2007 bis 2012 gilt, beschreibt die Arbeitsgruppe zur Verbesserung der Situation von Kindern folgende Faktoren, die Armut und Ausgrenzung verursachen: - Kinder, die von ihren Eltern bei den entsprechenden Behörden nicht registriert werden, existieren offiziell nicht. - Kinder, die in Armut bzw. unterhalb der Armutsgrenze leben, können sich nicht altersgerecht entwickeln. Zudem fehlt ihnen oftmals die elterliche Sorge. - Es gibt eine deutliche Benachteiligung von Mädchen und jungen Frauen. Mädchen haben in der indischen Gesellschaft und im Familiensystem nach wie vor in vielen Fällen einen niedrigeren Wert als Jungen. - Es gibt zu wenige Angebote und Hilfestellungen für beeinträchtigte und behinderte Kinder. Diskriminierung und Stigmatisierung sind hoch. - Opfer von Gewalt und Missbrauch scheitern trotz erfolgreicher Rehabilitationsprogramme oftmals an den Reintegrationsmöglichkeiten wie Fähigkeiten ihrer Familien oder der Dorfgemeinschaft. - Kinder der unterprivilegierten Bevölkerung werden doppelt benachteiligt, zum einen durch allgemeine Diskriminierung, zum anderen durch Verlust kultureller Identität. - Kinder werden insgesamt zu wenig in Entscheidungen einbezogen, die sie selbst betreffen und das sowohl zu Hause als auch in der Schule und in der Dorfgemeinschaft. - Es gibt zwar rechtliche Grundlagen, um Kinderarbeit zu verbieten und unter Strafe zu stellen, doch kontrolliert und angeklagt wird so gut wie nie. Kinder werden nach wie vor vielerorts als billige und willfährige Arbeitskräfte ausgenutzt. - Die Grundversorgung mit sanitären Einrichtungen, Trinkwasser, Schulen und zuverlässigen Lehrern ist immer noch mangelhaft. - Die Prügelstrafe in Schulen führt zu einer hohen Schulabbrecherquote. - Politische Interessen verlieren allzu schnell die Kinder und Jugendliche aus dem Blick. Die Gefahr, ihre Bedürfnisse und Anliegen zu instrumentalisieren, ist allgegenwärtig. - Obwohl Indien ein Land der Dörfer ist, sind die Medien und ihr für Kinder oft schädlicher Einfluss längst überall im Land präsent. Es fehlt am Bewusstsein vom Einfluss fragwürdiger Inhalte auf Kinder und Jugendliche. Was einzig zählt, ist das Prestige, einen eigenen Fernseher zu besitzen.
Eine weitere Schwierigkeit besteht nach Ansicht der genannten Arbeitsgruppe darin, dass Kinder und Jugendliche in offiziellen Entwicklungsplänen und Programmen zwar einen hohen Stellenwert einnehmen, in der Realität jedoch nicht das Ausmaß an Beachtung und finanzieller Zuwendung erfahren, das eigentlich geboten wäre. Kinder, die Gewalt, Missbrauch, Missachtung und Vernachlässigung ausgesetzt sind, haben eine deutlich kürzere Lebenserwartung und eine schlechte physische und psychische Gesundheit. Sie geraten leichter in schulische Schwierigkeiten und werden mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Schulabbrechern. In späteren Jahren verfügen sie über unzureichende elterliche Fähigkeiten. Sie laufen Gefahr, letztlich heimatlos, obdachlos und entwurzelt zu werden.
Vertreibungen, Landflucht, Verstädterung Vertreibungen werden in erster Linie durch die einflussreichen "Bauern-Kasten" verursacht, die die Unberührbaren (Dalits) und Stammesangehörigen (Adivasi) aus ihren Gebieten vertreiben, um auf diese Weise ihren eigenen Landbesitz zu vergrößern. Dies führt zur Flucht der betroffenen Menschen vom Land in die großen Städte. Aber auch Missernten aufgrund von Dürreperioden und Überschwemmungen verursachen, dass die Metropolen Indiens unter dem Ansturm von Binnenflüchtlingen weiter wachsen. Hinzu kommt der Einfluss der Werber, die durch die Dörfer reisen und unter Vortäuschung falscher Tatsachen billige Arbeitskräfte rekrutieren, die sie in die Fabriken der Städte bringen.
Kriegerische Auseinandersetzungen Ein so großes Land wie Indien ist nie gänzlich frei von kriegerischen Auseinandersetzungen. Ein seit Jahrzehnten nicht gelöstes Problem stellt der Kaschmir-Konflikt an der nordwestlichen Grennze zu Pakistan dar. Zudem kommt es vor allem im Osten Indiens immer wieder zu Anschlägen und militärischen Auseinandersetzungen mit gewaltbereiten, fundamentalen naxalitischen (maoistischen) Gruppierungen. Schließlich sind die regelmäßig auflodernden Spannungen zwischen Hindus und Moslems in einigen Städten und Landesteilen Ursache von Gewaltausbrüchen, die viele Opfer fordern. Maßgeblich für das Anwachsen der Zahl von Straßenkindern sind diese Konflikte dennoch nicht, auch wenn dabei manche Familie ihr Zuhause verliert und in der Folge ihre Kinder auf der Straße landen.
Innerfamiliäre Gewalt Opfer innerfamiliärer Gewalt sind vor allem junge Mädchen, die im Vergleich zu den Jungen weniger Zuwendung und Fürsorge erfahren und auch sonst benachteiligt werden. Viele Mädchen und junge Frauen werden innerhalb der eigenen Familie sexuell missbraucht. Jungen und Mädchen werden als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Häufig werden Kinder behindert gemacht, indem man ihre Knochen bricht, sie verätzt oder blendet, um ihren Erfolg beim Betteln zu steigern. Die körperliche Misshandlung und gewaltsamen Übergriffe auf Kinder geschehen in den eigenen Familien, die oft keinen anderen Ausweg sehen und nur so überleben können.
Sexuelle Ausbeutung, Kinderprostitution Nach den Erkenntnissen der staatlichen Arbeitsgruppe zur kindlichen Entwicklung für den 11. Fünf-Jahres-Plan hat Indien die größte Anzahl sexuell missbrauchter Kinder weltweit. Jede 155. Minute wird ein Kind unter 16 Jahren vergewaltigt, jede 13. Stunde ein Kind unter 10 Jahren und eines von zehn Kindern wird zu jedem Zeitpunkt sexuell missbraucht. Kinder werden zu pornografischen Aufnahmen gezwungen bzw. als Sexsklaven verkauft.
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