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Bedrohte Kindheiten

Katherine
 
Ansatzpunkte der Straßenkinderpädagogik


Experten der Lebenswelt Straße. Straßenkinderpädagogik ist in ihren Inhalten, Zielen und Methoden situationsorientiert. Ihre Bildungsangebote sind auf die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen der Straße ausgerichtet. Wenn Straßenpädagogen in der Lage sein sollen, sozial benachteiligte, randständige, ausgegrenzte Kinder und Jugendliche zu bilden und zu unterrichten, müssen sie zuerst die Lebenswelt von Straßenbewohnern kennen lernen. Dabei erfahren sie, wo und wie Straßenkinder wohnen, übernachten und arbeiten, wie ihr Tag abläuft und was sie essen, aus welchen Familien sie stammen und wie sie mit Freunden verkehren. Außer der objektiven Situation der Straße sollten Straßenpädagogen auch das subjektive Erleben der Minderjährigen verstehen können. Deshalb müssen sie mit ihnen über die kritischen Ereignisse wie die erlittenen Traumata ihres Lebens sprechen.

Straßenpädagogen sind Experten der Lebenswelt Straße. Sie lernen fremde Daseinsweisen kennen, nehmen sie sensibel wahr und reagieren empathisch darauf. Wenn sie Kontakt zu Straßenkindern suchen, dringen sie in eine andere Welt ein. In der Regel haben sie zuvor weder Obdachlosigkeit noch Drogenkonsum, weder Prostitution noch Kriminalität persönlich kennen gelernt, geschweige denn hautnah erfahren. Fremdverstehen der Menschen auf der Straße erfordert ein Minimum an eigener Straßenerfahrung. Die Erfahrungen des Straßenpädagogen müssen sich mit den Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen der Straße verknüpfen lassen.

Alltagsforschung. Didaktik, ausgerichtet auf die Lebenswelt obdachloser Kinder, setzt die Erforschung der Straße voraus. Jeder Straßenpädagoge leistet ein Stück Alltagsforschung, wenn er sich auf den Weg der Erkundung der Straße macht – des öffentlichen Raumes, den Straßenkinder zu ihrem persönlichen Raum erkoren haben. Straßenpädagogen lernen das „Feld der Straße" kennen, um sich darin zurecht zu finden, um die Daseinsformen von Straßenkindern zu verstehen und um ermessen zu können, welche Lebenshilfen und Bildungsangebote sie brauchen. Erstes Ziel ist die Identifikation von Armuts-, Exklusions- und Deprivationssituationen. Darauf folgt die Entwicklung von Interventionen.

Anschauung, Erfahrung und Reflexion befähigen Straßenpädagogen dazu, komplexe fremde Lebenssituationen zu analysieren und zu verstehen. Der Prozess der Erkundung des Feldes beginnt mit Versuchen der Annäherung, tastenden Schritten, zaghafter Kontaktaufnahme, in die oft Unsicherheit, Abwehr, Angst und mitunter auch Ekel hineingemischt sind. Er führt zur Wahrnehmung der Umstände des Straßenlebens, der dort gängigen Kommunikations- und Verhaltensweisen, und er mündet in Gespräche mit den Betroffenen. Durch die Erforschung und das Studium einzelner Fälle erwirbt sich der Straßenpädagoge Kenntnisse über Ausprägungen und Besonderheiten des Lebens unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit.

„Unregelhaftigkeit" als Grundmerkmal des Lebens und Lernens auf der Straße. Das Leben von Straßenkindern ist grundsätzlich ungeregelt und tatsächlich auch unregelbar. Das hängt mit dem Charakter der Straße zusammen, die weder Stetigkeit kennt noch zulässt. Stattdessen fordert sie ständiges Wachsein, Offenheit und Improvisation. Jedes Straßenkind ist ein Einzelfall. Jede Begegnungs-, Problem- oder Notsituation ist ein einmaliges Ereignis. Ähnliche Strukturen in den Lebenslagen und Lebensläufen von Straßenbewohnern sind erst aus der Distanz erkennbar (vgl. Julia Garhammer: Kinderarmut als Herausforderung für sozial-anthropologische Bildungskonzepte, München 2009, S. 110).

Unstetig wie das Leben ist auch das Lernen auf der Straße. Bildungsangebote müssen deshalb fast ohne Vorabfestlegung auskommen. Die Wirklichkeit wirft Planungen von Lerninhalten, Zielen und Methoden rasch über den Haufen. Bildungs- und Lernprozesse müssen sich an die Realität der Adressaten anschließen. Methoden, die sich in der Schule und im Unterricht oder in der Kinder- und Jugendarbeit bewährt haben, können nicht ohne Weiteres in die besondere Situation der Straße verpflanzt werden. Denn fast alles, was die Schule zur Förderung, Erleichterung und Qualitätssteigerung des Lernens ausgedacht, entwickelt und eingerichtet hat, fehlt dort. Im Unterricht werden gleichaltrige, in der Leistungsfähigkeit und Motivation vergleichbare Schüler in Lerngruppen zusammengefasst. Sie treffen sich zu feststehenden Zeiten an bestimmten Orten. Auf der Straße gibt es keine Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die im Hinblick auf Alter, Motivation, Vorkenntnisse und Leistungsvermögen homogen wären. Bildet sich zu irgendeiner Zeit oder an irgendeinem Ort eine Ansammlung von Kindern und Jugendlichen auf der Straße, so mag dies einen praktischen Grund haben; aber niemand weiß, ob sich dieselbe Gruppe jemals wieder zusammen finden wird. Kinder in der Schule haben von sich selbst ein Bewusstsein ihrer Rolle als Schüler, und sie wissen meist, was sie dem Lehrer und dem Unterricht schulden. Bei Straßenkindern ist das anders. Sie haben keine, wenig oder oft nur schlechte Erfahrung mit Bildung und Lernen.

Ehemalige Straßenkinder, die in sozialen Einrichtungen und Internaten Aufnahme gefunden haben und dort auf ein Leben in der Gesellschaft vorbereitet werden, bilden rasch Lehr-, Lern- und Ausbildungsgruppen und –klassen. Deren Strukturen ähneln denen in Schulen und Lehrbetrieben. Unter diesen Bedingungen kann man auf pädagogisch bewährte Methoden, Medien und Lehrbücher zurückgreifen. Anderen Gesetzen folgt das Lernen auf der Straße. Bildungsangebote stellen dort besondere Ansprüche an Straßenpädagogen und auch an Kinder und Jugendliche, denen Bildung und Lernen fremd sind und die sich leicht überfordert fühlen.


Für die Begegnung mit Kindern und Jugendlichen auf der Straße gibt es keine festen Vorbedingungen, vieles kommt überraschend. Straßenpädagogen müssen sich auf offene Situationen und Prozesse einlassen. Morgens wachen Straßenkinder gewöhnlich aus dem Drogenrausch auf, schwer und mühselig. Sie können anschließend geraume Zeit nicht richtig sprechen, geschweige denn denken und sich konzentrieren. Die Bereitschaft und das Interesse, etwas zu lernen, muss erst geweckt werden. Es gibt keine zuverlässigen Verabredungen, keine zeitliche Stabilität. Ein Kind, das heute an einer Begegnung partizipiert, ist morgen vielleicht in einer weit entfernten Gegend der Stadt unterwegs. Die Kenntnisse und Fähigkeiten der Jungen und Mädchen der Straße, ihr Bildungsstand, sind denkbar unterschiedlich. Viele können lesen und schreiben, manche nur mühsam, andere überhaupt nicht.

Lernen auf der Straße ist in starkem Maße spontan, improvisatorisch und subjektiv ausgerichtet. Planungen sind nur bedingt möglich, selten Punkt für Punkt umzusetzen. In den instabilen, leistungsmäßig heterogenen Gruppen gibt es keine kontinuierlichen Prozesse. Straßenpädagogen müssen lernen und akzeptieren, dass jeder Augenblick der Begegnung seinen Wert und seine Bedeutung in sich selbst trägt – mit ungewisser Fortsetzung. Über die augenblickliche persönliche Zuwendung und das situative Lernen hinaus führen keine sicheren, rational begründbaren und pädagogisch elaborierten Lernprozesse. Gefragt ist eine spontane, subjektive und elementare Didaktik des Augenblicks.

Bildung ist aber im Kern prozesshaft, auf Kontinuität und Vorwärtsschreiten angelegt. Lernen erschöpft sich selten in plötzlicher Eingebung und momentaner Erleuchtung. Dies stellt Straßenpädagogen vor die schwierige Aufgabe, einerseits der Unberechenbarkeit der Straßensituation gerecht zu werden, und andererseits  die Zielgerichtetheit von Bildung nicht aus dem Blick zu verlieren. Ihre pädagogische Kunst besteht darin, in der spontanen Begegnung Momente möglicher Dauer aufzuspüren. Sich kennen lernen, erzählen, Erfahrungen austauschen kann bereits ein Verlangen nach Kontinuität, Fortsetzung und Zukunft erzeugen.  

 

Der folgende Textabschnitt gibt Hinweise, wie Pädagogen bei der Annäherung an die Welt der Straße von der Ethnographie profitieren können:
(> Ethnographie. Wege der Annäherung)

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 01.11.2012 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |