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Religion der Straße. Überlebensstrategien jugendlicher Straßenbewohner in Kolumbien
(Hartwig Weber)
 
I. Das Leben als Märchen

„Es war einmal ein Mädchen, das seine Mutter (…) verschenkte." Yurleidi sitzt auf dem Boden, während sie ihre Geschichte auf ein großes weißes Blatt in ungelenker Handschrift und großen Druckbuchstaben schreibt. Yurleidi, ein junger Mensch von etwa 17, 18 Jahren, ist ganz in sich versunken. „Es war einmal ein Mädchen, das seine Mutter, als es sechs Monate alt war, verschenkte. In der Hand der anderen Familie blieb das Kind, bis es acht Jahre alt war. Ohne Mutter blieb das Kind." Der Ort, an dem diese Geschichte aufschreibt, ist ein kleiner Platz mitten in der kolumbianischen Metropole Medellín. Dort machen wir vom Projekt „Patio13 – Schule für Straßenkinder" seit einigen Jahren jungen Straßenbewohnern Bildungsangebote. Heute geht es um das Thema „Lebensgeschichten", „historias de vida". „Aber das, was das Mädchen nicht wusste", schreibt Yurleidi weiter, „war, dass sein Vater die Mutter zwei Monate später verließ. Und das, was die Familie nicht wusste, war, dass sie mit 12 Jahren Marihuana und Basuco rauchte und Kleber schnüffelte. Und mit 14 Jahren ging sie auf den Strich. Und was sie nicht ahnte, war, dass sie schwanger wurde. Aber sie wird das Kind nicht bekommen. Sie hat es verloren." 

Yurleidis Text ist eine bemerkenswerte kleine Erzählung, auffallend in Inhalt und Form. Zweifellos ist es ihre eigene Lebensgeschichte. Vielleicht erzählt sie sie zum ersten Mal. Die Straße – das ist kein Ort, um Lebensrückschau zu halten. Niemand würde sich dafür interessieren, niemand zuhören. Yurleidi erzählt in der dritten Person so, als ginge es gar nicht um sie selbst. Sie wählt die Form eines Märchens: „Es war einmal…" Die „historia de vida" zeichnet sie in kurzen, markanten Strichen: Auf die Aussetzung folgt das Leben ohne Mutter, acht Jahre lang; es folgen Straßenexistenz, Drogenkonsum, Prostitution, Schwangerschaft und schließlich die Abtreibung. Aus der erlebten Realität schält sich eine markante Spur heraus, die Phasen eines Lebens, das sie in seinem Chaos überspült hat. Yurleidis Sprache ist gewählt: die einzelnen Lebensphasen werden je durch dieselbe Formulierung eingeleitet: „Aber das, was das Mädchen nicht wusste, war, …" Und „Das, was ihre Familie nicht wusste, war…" „Das, was sie nicht ahnte, war…".

Yurleidis Leben, erzählt als Märchen ist alles andere als märchenhaft. Als Säugling von sechs Monaten weggegeben, verschenkt, ausgesetzt, irgendwo abgelegt, beseitigt. Das Dunkel der ersten sechs Lebensmonate wird in ihrem Dasein ein Vakuum hinterlassen, das auszufüllen kein Menschenleben ausreicht, keines in privilegiertesten Verhältnissen, hundert Mal weniger auf der Straße. Von diesem abgrundtiefen Vakuum wird alles aufgesogen, verschlungen und zermalmt, was die Welt an Wärme, Halt, Farben und Zuversicht bereitstellen könnte. Yurleidi schreibt eine Opfergeschichte: Auf die Verstoßung folgen Obdachlosigkeit, Drogenkonsum, Prostitution, Schwangerschaft, schließlich Abtreibung. Die absolute Trostlosigkeit erlaubt kein Entrinnen. Yurleidi kann sich gegen ihr Schicksal nicht wehren, geschweige denn selbst Hand anlegen, um es zum Besseren zu wenden.
Yurleidis Text ist ein kleines Kunstwerk, verfasst von einem Mädchen, das kaum schreiben kann. Mit der Passivität des Opfers geht eine bemerkenswerte kreative Gestaltung der Erzählung einher. Das Märchen macht Unaussprechliches aussagbar. Religion hat mit dem Märchen das Wunderbare und Übernatürliche gemein. Yurleidi gießt in diese Form ihr Schicksal hinein und versteckt sich hinter einem Schleier des Ungewissen, Nicht-Greifbaren.

Von ihren Eltern weiß Yurleidi nichts. Lediglich durch den Namen, den sie ihr gegeben haben, ist sie mit ihnen verbunden, durch diesen Namen, den ein Hauch des Mondänen umgibt. Er suggeriert, dass man seinem Träger Achtung und Ehrfurcht entgegen zu bringen hat. Die Eltern, die kaum sich selbst durchbringen, setzen ihr Kind mit dieser Wunschphantasie der Welt aus. Die magische Potenz des Namens soll sich in ihrem Schicksal manifestieren. Er wird ein zweifaches Wunder bewirken, das Wunder ihrer Bewahrung und das Wunder ihres Glücks..
Die Religion der Straße – das ist ein weites Feld. Zu diesem Thema werde ich Ihnen keine Forschungsergebnisse, nicht einmal eine systematische Darstellung präsentieren. Aber ich kann einige Beobachtungen schildern, im Vorübergehen gewonnene Wahrnehmungen von den Straßen der großen Städte Kolumbiens, hauptsächlich Medellíns.

 
II. Religion der Straße

Religiosität ist eine soziale Erscheinung, ein Phänomen der menschlichen Natur - Sprache, Handlungen und Haltungen, mit denen man sich verständigt. Dies gilt auch für das Leben auf der der Straße. Straßenbewohner sind Teil eines komplexen, höchst instabilen sozialen Systems, in dem die Menschen in extremer Weise voneinander abhängig sind. Auf der Straße haben nur Individuen, die miteinander kooperieren, Überlebenschancen. Religion kann den Menschen auf der Straße nützlich sein.

Von außen betrachtet, erscheint sie als eine Art Wirklichkeitsbeseitigung, eine Verfremdung in der Wahrnehmung der Welt zumal in Extremsituationen. Religiosität erfordert und stützt die Bereitschaft, permanent an Dinge zu glauben, die es wahrscheinlich nicht gibt. Dies scheint die Realität leichter aushaltbar zu machen. Darin zeigt sich ein rationaler Kern des Irrationalen, eine Vernunft höherer Ordnung.

Die Realität der Straße ist ein eigenartiges Universum. Straßenbewohner sind stigmatisiert durch ihre Lebensverhältnisse, durch das radikale Handicap fehlender Bildung, fehlender Arbeits- und Berufsmöglichkeiten – sie erscheinen kulturlos, chancenlos. Ohne sichtbare Grenzen ist die Straßenexistenz doch von unsichtbaren Gefängnismauern umgeben, aus denen es kein Entrinnen gibt: Es gibt keine realistische Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Straßenbewohner kennen und verkehren nur mit Ihresgleichen, mit Leuten, die ähnliche Schwierigkeiten haben, gefangen in derselben Tretmühle; beständig im Visier der wohlhabenden Zeitgenossen, deren Polizei und Justiz; in einer Umwelt, die ihnen feindlich, aggressiv, ausschließend begegnet und die ihnen alle Schandtaten der Welt anlastet, zumindest zutraut.

Das Leben auf der Straße fordert mit seinen ständig wechselnden Herausforderungen je neue Entscheidungen. Naturgemäß sind die Gedanken, Hoffnungen und Phantasien von Straßenbewohnern primär auf ihre jeweilige Lebenssituation gerichtet. Wer die Frage nach der Religion der Straße aufwirft, greift mitten ins Leben der Menschen hinein, das von Gewalt, Konflikten und Krisen geprägt ist. „Bei uns zu Hause", sagt Julián, ein junger Soziologiestudent, der in den Slums von Medellín aufgewachsen ist, „wartet der Tod vor der Tür." Auf der Straße lebt man in permanenter Tuchfühlung mit dem Tod. Die Straße der offenen Gewalt ist der Ort, wo Tod und Religion miteinander verschwistert sind. Die Religion der Straße speist sich aus der Todeserfahrung, dem Tod anderer als alltäglicher Erfahrung und der Angst vor dem eigenen Ende. Dabei ist der Eindruck der eigenen Bedeutungslosigkeit über alle Maßen stark und bedrückend. Die existentielle Nichtigkeit und die alltäglichen Entbehrungen schreien gleichsam nach anderen Daseinsbedingungen, nach einer anderen Welt, nach etwas Jenseitigem, durch das hindurch der Blick auf das eigene Leben erträglicher wird.
Als Deutesystem mit hohem Allgemeinheitsgrad kann der christliche Glaube, versetzt mit Elementen der lateinamerikanischen Volksreligiosität, den Bedürftigen ein Bild der Wirklichkeit liefern, das immer noch einige Optionen offenhält. Sie stellt ja in Aussicht, dass selbst elementare Negativerfahrungen einen Sinn haben. So wird die existentielle Angst des bedingungslosen Ausgeliefertseins beschwichtigt. Wenn man die kollektive Inbrunst der versammelten Gläubigen bei einer Messe miterlebt, kann man die religiöse Wucht körperlich spüren, mit der die Menschen ihre Hoffnung auf Jesus, Maria, die Heiligen und die die heiligen Handlungen vollziehenden Priester werfen. Auf der eigenen Haut kann man die Wirkung des Glaubens fühlen, der der Verlassenheit ein Gegengewicht setzt und die extrem eingeschränkten Chancen der Menschen durch Hoffen und Flehen transzendiert. Es sind nicht die tausendmal gehörten Geschichten, die tausendmal vernommenen biblischen Lesungen, die tausendmal vollzogenen, immer wieder gleichen Handlungen der Priester, die diese Wirkung erzeugen, sondern es ist die rückhaltlose Erwartung und die vorbehaltlose Selbstauslieferung der Menschen, die diese kollektive Wirkung erzeugen.

Die meisten kolumbianischen Straßenbewohner gehen davon aus, dass ihren alltäglichen Sorgen und Bedrohungen himmlische Chancen, ihren handfesten Wünschen außerweltliche Tatsachen entsprächen. María Auxiliadora, der gemarterte Christus oder das strahlende Jesuskind schenken denjenigen, welchen die gesellschaftliche Anerkennung und Fürsorge versagt bleibt, persönliche Aufmerksamkeit. Die Gottesmutter reißt sie aus der Bedeutungslosigkeit, indem sie ihren einmaligen persönlichen Wert erkennt. So träumen sich Straßenbewohner - wie andere Bedürftige auch - über ihre aussichtslose, ungerechte Wirklichkeit hinaus, bis die zweite Wirklichkeit, die religiös kreierte, die erste in den Schatten stellt. 
Die Frage nach Ursache und Gründen des Elends und der Ungerechtigkeit auf der Straße ist bohrend und unabweisbar. „Warum ist dies mein Schicksal? Was habe ich getan? Ich habe das nicht verdient!" will Marcela wissen, eine junge Frau, die wir vor zehn Jahren auf der Straße kennengelernt haben. „Ist mein Schicksal die Folge einer persönlichen Verfehlung?" fragt sie. Das Elend, das sie erfährt, wirft bei ihr die Frage nach dessen Grund auf. Aus dem Nachdenken über das Unheil erwächst das Problem der Herkunft des Bösen. Was ist der Sinn meines Leides? Diese Frage ist auf der Straße alles andere als akademisch.

Da die Realität, für sich betrachtet, weder ein erträgliches Leben noch die geringste Erfüllung, geschweige denn Glück in Aussicht stellt, verdoppelt die Religion der Straße die Wirklichkeit. Sie negiert damit die Einmaligkeit des Diesseits und stellt den Alltag ins Licht eines Anderen, einer Zukunft, eines Paradieses (vgl. Clément Roset: Das Reale in seiner Einzigartigkeit, Berlin 2000). Angesichts der Fassungslosigkeit der Welt wird die Religion zum Planspiel des Machbaren, das das Dasein mitten im Unerträglichen mit einem Hauch zukünftiger Güte und Ordnung ausstattet.


 
III. Magie. Moralischer Dispens

Der Glaube der Straße ist eine religiöse Alchemie, die, je nach Lage der Dinge, aus jeder Not eine Tugend machen kann und verwertet, was praktikabel und nützlich erscheint. Neben Inhalten der christlichen (römisch-katholischen) Tradition rezipieren Straßenbewohner in Lateinamerika Elemente der nichtchristlichen, indigenen und afroamerikanischen Kulte. Es gelingt ihnen leicht, magische Vorstellungen und Praktiken aufs harmonischste in ihre Überlebensstrategien einzubinden.

In der lateinamerikanischen Frömmigkeit, wie sie sich in Kolumbien (und zumal in Antioquia mit der Hauptstadt Medellín) darstellt, spielt Gottvater kaum eine Rolle. An seiner Stelle erscheint Maria mit unzähligen Beinamen, die auf je eigene lokale Kulte hinweisen, daneben Jesus, der bis auf Blut Gemarterte, mit dem blutenden Herzen und schließlich „el divino niño Jesús", das Christuskind, dem ein eigener, überaus lebendiger Kult gewidmet ist, der, im 19. Jahrhundert aus Prag nach Lateinamerika exportiert, zum Beispiel  in der Hauptstadt Bogotá ein ganzes Viertel, das Barrio 20 de Julio, erobert und in Besitz genommen hat.

Gustavos Amulette.
Zahllose religiöse Praktiken und fromme Gegenstände – beispielsweise das Kreuzschlagen und die Verwendung von Amuletten und Skapulieren – erscheinen ganz und gar orthodox, dabei wird mit ihnen nach Herzenslust Zauberei getrieben. Gustavo, ein junger Mann von 28 Jahren, lebt als Zuhälter und, durch Vermittlung seiner eifrigen Mädchen, vom Handel mit Drogen, denen er auch selbst in Maßen zuspricht. Seine enge Lederjacke, die vorne aufspringt, lässt die nackte Brust frei, auf der verschiedene Ketten und Gehänge baumeln, durchbohrte messingfarbene Gewehrkugeln, silberglänzende Metallblättchen mit Gravuren. Befragt, warum er diesen Schmuck trage, sagt er: „Weil ich aufpassen muss, dass da nicht plötzlich so ein paar üble Kerle daherkommen und mich umbringen." Er ist beständig auf der Hut, von der Polizei gefasst oder von seinesgleichen in einer „ajuste de cuentas" (Abrechnung, Rache) umgebracht zu werden. Wo alle zur Verfügung stehenden Mittel versagen, braucht man jenseitige Hilfe. Die Amulette geben Gustavo Sicherheit und Zuversicht. Er ist entschlossen, jeden, der ihm gefährlich wird, ins Jenseits zu befördern. Das Bewusstsein, selbst von einem auf den anderen Augenblick getötet werden zu können, macht ihn fromm. Er schlägt immerzu das Kreuz, betet zu Gott und schützt sich vor Schüssen in den Rücken durch zauberkräftige Anhänger. Mit Talismanen und Amuletten behängt, praktiziert er fromme Handlungen und schickt, vor allem in Momenten großer Gefahr, Stoßgebete zum Himmel. Die Hülsen abgefeuerter Gewehrkugeln und Metallblättchen an dünnen Lederbändern stellen einen wirksamen Zauber gegen unbekannte und plötzliche auftretende Bedrohungen dar. Magie kompensiert Schwächen und mobilisiert Potenzen, die die eigenen Fähigkeiten übersteigen. Gustavo zweifelt nicht daran, dass religiöse Gesten, frommen Sprüche, Gebete und magische Gegenstände überaus hilfreich sind. 
 
Gustavo ist kein Einzelfall. Pequas, ein hemmungsloser Gewaltmensch und Krimineller, greift, ehe er sich auf den Weg macht, seine Auftragsmorde auszuführen, an das geweihte Karmeliterskapulier, das gewöhnlich um seinen Hals baumelt. Denn es hat ihm schon oft geholfen. Skapuliere, historische Überbleibsel der schützenden Schulterkleider der Benediktinermönche, sind Anhänger, die in allen Notlagen körperlichen und seelischen Schutz gewähren. Bei Obdachlosen und Straßenkriminellen sind diese potenzhaltigen, segenreichen Schmuckstücke äußerst beliebt. Wer ein Sklapulier trägt, ist der Zuwendung der Gottesmutter sicher. Die frommen Kriminellen tragen die geweihten Gegenstände nicht nur am Hals, sondern auch an Unterarmen und Fußgelenken. Nach Überzeugung ihrer Träger erfüllen die Anhängsel drei Funktionen: Sie sorgen – erstens - dafür, dass man bald einen neuen Auftrag bekommt. Zweitens verhindern sie, dass man danebenschießt. Und drittens wird man anschließend auch angemessen entlohnt. (Nützlich ist auch der „Franziskusgürtel", ein geknotetes Seil, das um den Leib geschlungen wird. Die Anzahl der Knoten steht für die Zahl der Getöteten. Jeder einzelne Knoten wird im Zusammenhang einer Zeremonie geschlungen, in der man sich des Schutzes der überirdischen Macht auch für die Zukunft versichert.

Ana und der Liebeszauber. Magie und Zauberei sind überaus praktisch. Sie helfen in Notlagen, stärken das Wohlbefinden und stellen Unfassliches, Unerklärbares und Ärgerliches in ein erhellendes Licht. Folgende Geschichte mag dies verdeutlichen: Anas Vater, 45 Jahre alt, ist Lebensmittelhändler, ein fleißiger und sympathischer Mann. Ihre Mutter, 40 Jahre, ist hübsch und impulsiv. Die Familie stammt aus einem Dorf bei Medellín. Der Laden, den sie unterhalten, wirft wenig ab, so ziehen sie eines Tages in den Chocó, den von Urwald überzogenen Landstrich am Pazifik, wo überwiegend Schwarze leben. Dort stellt sich der erhoffte Erfolg bald ein: nach einem Jahr besitzen sie neben einem neuen Laden ein eigenes Haus. Anas Eltern sind auf eine gute Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder erpicht, sie engagieren sich in der Acción comunal und bei sozialen Maßnahmen der Kirche.

Eines Tages verliebt sich der Vater in eine schwarze Frau. „Von einem Augenblick auf den anderen hat er uns wegen dieser Person verlassen, die im Übrigen einen unehelichen Sohn von irgend einem anderen Mann hat", klagt Ana. Ihr Vater kommt ihr wie „verrückt" vor, Argumenten unzugänglichen, allem Bitten und Flehen gegenüber verhärtet. Wie kann der liebevolle Vater plötzlich so grausam sein und die Familie wegen einer anderen Frau verlassen? Die Nachbarn argwöhnen, es liege Schadenszauberei vor („La gente le decía a mi mamá que le habían hecho un maleficio a mi papa. Que estaba enyerbado.”).
Anas Mutter verkauft den Laden, und die Familie kehrt, ohne Vater, in die alte Heimat zurück. In Medellín meldet sich alsbald eine Frau und erklärt, sie könne den Vater von dem Malefizium befreien. Auch die Mutter sei verzaubert, sagt sie, das spüre man an ihrem Hass. Ihre Mama, berichtet Ana, habe ein Glas mit Salzwasser trinken müssen und daraufhin Mengen von dickflüssigem Schleim in ekelerregender Farbe erbrochen. Währenddessen des Vorgangs hält Ana ein Kreuz in die Höhe und betet, zitternd und bebend vor Angst. „Die einzige Möglichkeit der Heilung", sagt die Heilerin, „ist es, zu vergeben und Gott ganz nahe zu sein."

Miguel. Es gibt Lebenssituationen, die gefüllt sind von Religion, und andere, wo Religiosität ausfällt. Das Wertesystem der Straße kommt weithin ohne Religion aus. Miguel, 14 Jahre alt, lebt seit vielen Jahren auf der Straße. Stets sieht man ihn inmitten einer Clique Gleichaltriger. Als kleines Kind arbeitete Miguel in einer Goldmine, später als Holzfäller im Wald. Die Schule hat er nie von innen gesehen. Auf der Straße ernährt er sich von dem, was Diebstahl und Überfälle abwerfen. Hauptsache, er kann seinen Drogenkonsum finanzieren. Einen Teil des verdienten Geldes gibt er seiner Mutter, die er, im Unterschied zu seinem Stiefvater, über alles liebt.
Miguels Welt ist voller Konflikte und Gewalt. Ständig gibt es Auseinandersetzungen mit der Polizei, mit Paramilitärs, den „Águilas negras", die in den Barrios auf brutalste Weise für Recht und Ordnung sorgen. Miguels Freunde haben die Stellen ausfindig gemacht, wo sie Paras ihre Waffen verstecken, und sie haben sich dort bedient. In der Clique herrschen rigide Gesetze: Wer einen Freund bestiehlt, wird getötet, wer ihn verrät, auch. Man fühlt sich eng miteinander verbunden. Das Wichtigste ist Solidarität – den anderen nicht verraten, alles miteinander teilen, sich gegenseitig helfen.
Wenn Miguel von Diebstählen, Raubüberfällen, tödlichen Schüssen berichtet, zeigt er keinerlei Schuldgefühl oder Reue. Er behauptet, er selbst habe schon zehn oder elf Menschen getötet. Als Grund nennt er Verrat, Schädigung, Beleidigung, Schmähung seiner Mutter, seines Bruders, seiner Freunde. Wenn ihm jemand gefährlich wird, ist es am besten, ihn sofort zu erledigen. Einmal hat er, um eine neue Waffe auszuprobieren, einem Jungen in den Kopf geschossen, ein anderes Mal hat er einem Schlafenden das Messer in den Rücken gestoßen.
Gewalt und Totschlag sind unabwendbar, wenn es die Verhältnisse erfordern. Das Verhalten, das die Straße erzwingt, kann keine frommen Rücksichten nehmen. Wenn Entscheidungen blitzschnell gefällt werden müssen, hat man keine Zeit an Moral zu denken. Unsicherheit oder ein schlechtes Gewissen wären kontraproduktiv. Von Religion als sublimierender Kraft kann auf der Straße keine Rede sein. Ethische Reminiszenzen würden den Überlebenskampf behindern.

Sehr einfühlsam, voller Sorge, geradezu moralisch  zeigt sich Miguel hingegen, wenn es um seine Freunde geht. Er schwört, dass er ihnen in jeder Lebenslage beistehen und stets Verantwortung für sie übernehmen würde. Anstelle der Eiseskälte, die er Außenstehenden gegenüber an den Tag legt, zeigen sich Anzeichen einer starken emotionalen Bindung, sobald er von seinen Freunden spricht. Die Mutter ist eine unversiegbare Quelle und beständigstes Objekt moralischer Erwägungen. Über die Familie und die „gallada" (Bande) hinaus reicht die Moral nicht.
Wenn Straßenbewohner das Wenige, was sie haben, untereinander teilen, beruht dies auf Gegenseitigkeit. Das Binnenverhalten in den „galladas" ist utilitaristisch. Was die eigene Gewalt bändigt, sind nicht moralische Bedenken, sondern die Angst, im Gegenüber einem Stärkeren zu begegnen und in der Auseinandersetzung mit ihm den Kürzeren zu ziehen.

Dass Glaube und Moral auseinander fallen, wird nicht als problematisch empfunden. „Wenn man auch kein Heiliger ist, so ist man doch ein gläubiger Mensch", sagt ein Straßenbewohner. Sollten sich dennoch einmal unverhofft Skrupel melden, so bitten Straßenbewohner die Gottesmutter, das göttliche Jesuskind oder den alles verzeihenden Gottessohn um Verzeihung für ihre Verfehlungen und verweisen auf ihre schwierige, wenn nicht aussichtslose Lage und den unentrinnbaren Zwang der Umstände, die der eigentlich guten Gesinnung und den besten Vorsätzen im Wege stehen. So schaffen sie zwischen Wunsch und Wirklichkeit, religiösem Anspruch und praktischer Umsetzung einen von Fall zu Fall lebensdienlichen Ausgleich.
Kein Auftragsmörder – sicario oder miliciano – würde aus Skrupel über seine Taten auf Beichte und Messe verzichten. Sollten sich Schuldgefühle regen, was Gott verhüten möge, werden sie im Kult besänftigt. Kriminelle bevorzugen die Messen der María Auxiliadora, der Hilfreichen Gottesmutter, denn bei ihr gibt es kein Ansehen der Person. „Wenn die Priester die ‚sicarios‘ unter den Gläubigen sehen", sagt man, „dann nutzen sie die Gunst der Stunde und lesen ihnen gründlich die Leviten. Kein ‚sicario‘ oder ‚miliciano‘ würde sich von einem Priester beeindrucken lassen. Im Gottesdienst beten sie darum, dass sie in Zukunft noch mehr Erfolg haben bei ihrem mörderischen Geschäft. Und anschließend rauben und morden sie ungerührt weiter."
 
IV.Totenseelen, Dämonen, Jenseitskontakte

Neben der Jungfrau Maria und dem Jesuskind werden in Kolumbien in Notfällen gerne die Seelen im Fegfeuer angerufen. Sie sind mindestens so nützlich und so populär wie die Heiligen. Der Sammelbegriff „ánimas" umfasst alle Totenseelen. Eine Sondergruppe stellen die „almas" dar, die Seelen der Verstorbenen aus der eigenen Familie. Als unsichtbare Wesen stellen die Totenseelen eine vorübergehende Daseinsform dar. Man kann ihnen auf den Friedhöfen begegnen, in Wirklichkeit aber sind sie im Fegfeuer, dem „purgatorio", wo sie auf Reinigung und Errettung hoffen dürfen. Sie machen den Lebenden Angst, sind mächtig, und man ruft sie oft um Beistand an. Die Gefühle für die „almas" sind naturgemäß inniger als für die „animas". Insbesondere von der Seele des verstorbenen Vaters oder der Großmutter erwartet man tatkräftige Unterstützung und Hilfe in schwierigen Lagen.

In manchen Dörfern gibt es heute noch einen Beauftragten für die Seelen, den „animero". Seine Zeit ist der Monat November. Die Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November ist den Hexen geweiht. Am 1. November folgt der Tag der Heiligen. Der 2. November ist der Tag der Armen Seelen und der Toten. Den ganzen Monat über hört man allnächtlich das Glockengebimmel des Seelenführers, der die Totenseelen auf dem Friedhof einsammelt und in einer Prozession durch alle Viertel des Ortes führt. Während des nächtlichen Gangs rezitiert der „animero" fortwährend folgenden Singsang: „Un Padre nuestro para las benditas almas del purgatorio."

Jeder, der das Glöckchen hört, beeilt sich, zur Erlösung der Armen Seelen ein Vater unser zu beten. Bei seinem Gang durch die Nacht folgen dem Seelenführer oft Hunderte von Menschen. Er selbst darf niemals hinter sich schauen und auch nicht zur Seite. Würde er sich umblicken, so fiele er augenblicklich zu Boden, tot oder zumindest bewusstlos. Deshalb trägt er eine Kapuze auf dem Kopf, die den Blick zur Seite unmöglich macht. („Ich laufe nicht nur für die hiesigen Seelen, sondern für die der ganzen Welt", sagt Chucho Huevo, der „animero" von Copacabana. Ein einziges Vater unser, meint er, kann mehr als tausend Seelen aus dem Fegfeuer befreien. Die Menschen nähern sich ihm und wollen seine Kleidungsstücke berühren, das stärkt und heilt. Sie tragen ihm auf, die Seelen um dieses oder jenes zu bitten. Auf dem Weg durch die Nacht geschehen viele Wunder. Persönlich, sagt Chucho Huevo, habe er die Seelen noch nicht gesehen, obwohl er dieses Amt seit 36 Jahren innehat, und noch nie hat er einen Gang ausfallen lassen. Aber er hört ihr Getrappel auf der Straße und ihr Gemurmel. Auch sieht er manchmal ihre Schatten auf dem Friedhof. Heute noch hat er Angst, wenn er dorthin geht und die Seelen einsammelt. „In meinem Leben haben mir die Seelen viel geholfen", sagt er. Nur mit ihrer Hilfe hat er schwere Operationen und andere Krankheiten überlebt.

Auch Marcela, die junge Frau von der Straße, glaubt fest an die Totenseelen. „Wenn ich in Gefahr bin", sagt sie, „bete ich zu ihnen. Zum Beispiel wenn ich durch eine gefährliche Gegend komme. Ich rufe die Seelen im Fegfeuer an, dann schützen sie mich. Sie machen mich unsichtbar. Dann können die Leute, die mir Böses wollen, mich nicht sehen, geschweige denn mir etwas antun."

Die Nähe zu den Verstorbenen kommt in Kolumbien im Totenkult zum Ausdruck. Eine besondere Ausprägung erfährt er unter Jugendlichen, vor allem den Jugendbanden in den Slums, die sich um die Städte wie Würgegürtel herum legen. Stirbt ein Anführer, so entsteht an seinem Grab bisweilen ein regelrechter Kult. Die Freunde seiner Clique treffen sich auf dem Friedhof, hören mit einem Radiorecorder die Musik, die er liebte, konsumieren Drogen und sprechen über die Vergangenheit, vor allem über die Heldentaten des Verstorbenen. Bisweilen errichten sie auch einen Altar auf der Straße im Wohnviertel, den sie mit einer Maria, einem Foto des Getöteten, seines Motorrads und einem Aufkleber seiner bevorzugten Fußballmannschaft ausstatten. In den beiden letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts wurden in den Comunas von Medellín 70 bis 80 Prozent der männlichen Jugendlichen bei Auseinandersetzungen zwischen den Banden, paramilitärischen Gruppen und der Guerilla getötet.
Totenbeschwörung. Die Anführer der Banden stehen bei den Mädchen in großem Ansehen. Ein Lehrer der Schule Santa Teresa im Viertel Andalucia La Francia berichtete, dass er eines Tages eine Gruppe von Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren antraf. Sie sitzen weinend und wehklagend in der Schulkapelle, dicht aneinander gedrängt. Gerade haben sie erfahren, dass ihr „novio" (Geliebter), Mitglied der Bande „los Capuchos", ein „duro" und weithin bekannter Killer, umgebracht worden ist. Die Mädchen stammen, wie fast alle Bewohner der Comunas, vom Land. Das Ausbildungsniveau ist niedrig. Sie sind ausgesprochen fromm und verehren die „ánimas".

Der Getötete, von vielen Mädchen angehimmelt, hatte, wie jeder, der etwas auf sich hält, zahlreiche „novias" (Verlobte). Sie waren stolz darauf, dass sie sich als seine Geliebte rühmen durften, und dieser Stolz war stärker als jede Eifersucht auf die zahlreichen Rivalinnen. Am liebsten wollten sie nicht nur Braut, sondern auch Mutter und Tochter des Angebeteten sein.

Die Mädchen, die den Tod des Geliebten betrauern, haben eine Kerze angezündet. Vor ihnen liegt ein in vier Teile zerlegter Karton, darauf haben sie die Buchstaben des Alphabets geschrieben. Als der Lehrer eintritt, erstarren sie, werden bleich und wagen nicht, aufzublicken, eines der Mädchen schluchzt. „Wir haben den Geist unseres Freundes angerufen", gestehen sie. Dazu hat ihnen das „Ouija"-Brett (Hexenbrett, wichborard) gedient, mit dessen Hilfe Geister und Tote Botschaften aus dem Jenseits übermitteln können. Das Entsetzen der Mädchen rührt nicht vom Entdeckt werden, sondern von der Begegnung mit dem Unheimlichen und der Angst her, von ihm ergriffen zu werden, wen man ihm zu nahe kommt.

Die kolumbianische Volksreligiosität kennt eine Fülle von Geistwesen, die Armen Seelen der Toten im Fegfeuer, die man anrufen kann, die Totenseelen der Ahnen, die besonders hilfreich sind, und die Geister von bedrohlicher Natur (vom Heiligen Geist habe ich nie jemanden sprechen hören). Den Dämonen sind die Menschen hilflos ausgeliefert, man kann ohne Schuld und eigenes Zutun von ihnen ergriffen werden. Kürzlich wurde in einer Medellíner Tageszeitung von einer Schulklasse berichtet, in der alle Kinder Anzeichen dämonischer Besessenheit aufwiesen. Ihr Verhalten erinnerte unmittelbar an die Besessenheitsepidemien in Kindergruppen im 16. und 17. Jahrhundert in Europa, zum Beispiel in Horn, Mora, Salem oder Calw.

Leidy. Leidy ist 17 Jahre alt und besucht die 10. Klasse der Sekundaria. Ihre Noten haben sich in der zurückliegenden Zeit merklich verschlechtert. Das beunruhigt sie sehr, denn ihr Vater ist streng, und Leidy befürchtet, dass er, wenn er erst das Zeugnis in Händen hält, den Kontakt zu ihrem Freund verbietet. Leidy hat ohnedies oft Streit mit dem Vater, dem der Junge überhaupt nicht zusagt. Er schimpft, wenn sie zu lange mit ihm telefoniert oder ihn gar unter der Woche treffen will. Leidy leidet, ihre Freundinnen stellen fest, dass sie immer blasser, trauriger und unzugänglicher wird. Sie droht, ihre Familie zu verlassen oder sich gleich das Leben zu nehmen.

Wenige Tage vor der Zeugnisausgabe spürt Leidy, wie ihr schwindelig wird. Sie verliert das Bewusstsein. Mutter und Schwestern versuchen sie nach Hause zu holen. Aber sie liegt da, ganz schwer, während sie Arme und Beine heftig bewegt. Der Kopf schleudert vor und zurück, offenbar hat sie keine Kontrolle mehr über den eigenen Körper. Der Leib geht auf und ab, das erinnert die Umstehenden an eine arabische Bauchtänzerin. Als man versucht, sie vom Boden aufzuheben, wehrt sie sich. Dann wird sie ruhig. Die Augen bleiben geschlossen, der Mund ist aufgerissen, sie erbricht Schleim. Die ganze Prozedur wiederholt sich immer wieder, mindestens eine halbe Stunde lang.

Auf einmal steht Leidy auf, als erwache sie aus tiefem Schlaf. Erstaunt blickt sie um sich. Sie wird mit Fragen bestürmt, antwortet jedoch nicht, reagiert auch nicht auf die unsichere und ängstliche Zärtlichkeit ihrer Mutter und der Schwestern. 
An den folgenden Tagen wiederholen sich die Anfälle sowohl zu Hause wie auch in der Schule. Die Nachbarn meinen, dass irgendjemand Leidy verzaubert habe („Le hicieron un maleficio."). Sie sei offenbar von Dämonen besessen („Está endemoniada.") Die Sachkundigen empfehlen, im Haus ein Kruzifix aufzustellen und einen Gegenzauber zu machen. Ein Hufeisen könne dienlich sein oder ein Palmblatt („la penca sábila"). Außerdem müssen verschiedene Gebete gesprochen werden.

Wenn Leidy aus den Anfällen aufwacht, erinnert sie sich an gar nichts, und sie erkennt nicht einmal mehr die Personen, die um sie herum stehen. Die Anfälle werden immer heftiger, ihr Verhalten ist aggressiver. Wenn Leidy das Bewusstsein verliert und die Bewegungen mit Armen, Beinen und dem Kopf anheben, gibt sie Töne von sich, die von einem anderen Wesen stammen müssen, so fremd klingen sie, wie die tiefe Stimme eines Mannes. In Leidys Zimmer herrscht das Chaos, die Möbel sind verrückt, Kleider liegen überall herum. Die Eltern entdecken auf ihren Armen Buchstaben, in die Haut hinein geritzt. Die Familie und Leidys Freundinnen vermuten, dass die Zeichen auf die Besessenheitsdämonen zurückgehen. Die Nachbarn hören nachts seltsame Geräusche, die ihnen Angst machen. Man bringt das Mädchen zu einer der zahlreichen protestantischen Sekten, von denen man weiß, dass sie Dämonen austreiben. Die Familie verharrt im Gebet und behängt das Mädchen mit Amuletten. Aber alle Mittel und Maßnahmen versagen, und Leidys erbarmungswürdiger Zustand besteht fort. Schließlich wird das Mädchen für einige Tage in eine Klinik eingewiesen. Der Neurologe empfiehlt eine psychologische Therapie.

 
V. Vom Nutzen und Frommen der Religion der Straße

Die hier beschriebenen Beispielgeschichten zeigen, dass die Menschen vielfältigen Nutzen aus ihrer Religiosität ziehen können. Die lateinamerikanische Volksreligiosität hat den ganzen Reichtum der abendländischen Tradition erhalten und durch eigene Zugaben aufgebessert. So stellt sie ein unerschöpfliches Reservoir an religiösen Sprach-, Vorstellungs- und Handlungsmöglichkeiten bereit, aus dem die Menschen je nach Lage der Dinge, der Zeit und der Umstände schöpfen.

Unterscheidungskriterien zwischen dem, was orthodox und dem, was als „abergläubisch" gelten könnte, sind nicht zur Hand. Die Inquisition hat in diesem religiösen Feld keine nachhaltigen Spuren hinterlassen. Die lateinamerikanische Theologie zeigt seit dem Verschwinden der Theologie der Befreiung keine gesellschaftliche Außenwirkung mehr. Die Priester haben alle Hände voll zu tun, um die nach Marienerscheinungen und sonstigen Wundern hier und dort und immer wieder aufflackernden lokalen Kulte unter Kontrolle zu halten und in einigermaßen akzeptable Bahnen zu lenken.

Die einzelnen Beispiele stellen Situationen ähnlicher Struktur und Funktion vor Augen. Religiosität erweist sich darin als Möglichkeit, das innere Befinden (Wünsche, Angst) mit den äußeren Gegebenheiten (Mangel, Bedrohung, Not, Gefahr) so in Beziehung zu setzen, dass subjektiv Erleichterung erfahren wird. Dies vollzieht sich als soziales Geschehen des Einschlusses und des Ausschlusses. Religiosität hält Sprache, Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten bereit, auf die man zurückgreift, weil sie verstanden werden. Marcela hat gelernt, Schicksal und Schuld so miteinander in Beziehung zu setzen, dass sie dabei selbst entlastet wird. Gustavo, der sich mit Amuletten behängt, erfährt himmlischen Schutz. Während er klar stellt, wer Freund und wer Feind ist, gibt er sich seiner Umgebung zu erkennen als einer, der geschützt ist. Der allgemeinmenschliche persönliche Wunsch, über den Tod hinaus mit den geliebten Toten in Kontakt zu bleiben, wird im Glauben an die Totenseelen mit der Macht sozialer Überzeugung ausgestattet. Die Vorstellung Anas von der Verhexung des geliebten Vaters entlastet diesen und mindert die Enttäuschung der Tochter. Die Besessenheit Leidys ist eine offensive Attacke, die die Dämonen mobilisiert, um die Ablehnung des geliebten Freundes durch den Vater zu verhindern. Die kleinen Geschichten von Marcela, Gustavo, Pequas, Ana und Leidy sind religiöse Erfolgsgeschichten des Alltags.

Daraus ist zu ersehen, wie Religiosität die Menschen stärken kann, wenn ihre Sicherheit bedroht ist; wie sie ihnen Orientierung gibt und ihren Selbstwert steigert. Im Alltag profitieren Straßenbewohnern von der Möglichkeit, mit Hilfe religiöser Konstruktionen wenigstens Reste von Kontrolle zu wahren und dem Gefühl zu widerstehen, ganz und gar wertlos zu sein. Jedes Leben ist darauf aus, mindestens drei Bedürfnisse zu befriedigen. Die Ereignisse des Lebens sollen einen Sinn ergeben. Das Leben muss kontrollierbar bleiben, das heißt interpretierbar, im Blick auf die Zukunft vorhersehbar sein. Und schließlich hegt jeder den Wunsch, wertgeschätzt zu werden. Die Religiosität der Straße kann diese drei grundlegenden Bedürfnisse erfüllen, wenn es ihr gelingt, das Leben und die Welt, trotz aller Bedrohung und Ungewissheit, geordnet und organisiert erscheinen zu lassen.

(Vortrag anlässlich der Tagung "Hexenkinder, Kinderbanden, Straßenkinder", 21. – 24. Oktober in Weinhgarten bei Ravensburg)

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 19.07.2011 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |