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Publikationen

Straßenkinder – Zukunft durch Bildung?
(Hartwig Weber, 2009) 

Annäherung
„Es war einmal ein Mädchen, das seine Mutter, als es sechs Monate alt war, verschenkte." Yurleidi schreibt den Satz auf ein großes weißes Papier, das die Studentinnen vor ihr auf dem Boden ausgebreitet haben. Sie erfindet selbst ein Märchen. Yurleidi ist wie versunken, ganz bei sich. Mit sorgfältig geformten Buchstaben schreibt sie weiter: „In der Hand der anderen Familie blieb das Kind, bis es acht Jahre alt war. Ohne Mutter blieb es. Aber das, was das Mädchen nicht wusste, war, dass ihr Vater die Mutter zwei Monate später verlassen hatte. Und das, was ihre Familie nicht wusste, war, dass sie mit zwölf Jahren Marihuana und Basuco rauchte und Kleber schnüffelte. Und mit vierzehn Jahren ging sie auf den Strich. Und was sie nicht ahnte, war, dass sie schwanger wurde. Aber sie wird das Kind nicht bekommen. Sie hat es verloren." Yurleidis Märchen, das erkennen die Studentinnen sofort, ist in Wirklichkeit die Geschichte ihres Lebens. Vielleicht hat sie sie bisher noch niemandem erzählt. Das gelingt ihr erst jetzt in der Form eines Märchens.
 
Lassen Sie sich von mir an den Ort dieser Geschichte versetzen. Die Plazoleta Rojas Pinilla, wo die Studentinnen des Bildungsprojekts Patio13 mit Straßenmädchen und Straßenjungen arbeiten, ist ein Platz im Zentrum der lateinamerikanischen Millionenmetropole Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens. In Form eines spitzen Dreiecks geschnitten, misst er an der Breitseite etwa 40, in der Länge wohl 60 Meter. Wir erfassen den Ort mit einem Blick: Um die Statue des ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Rojas Pinilla herum findet eine wilde Jagd statt. Ein kleiner Junge hat einem Mädchen die Kleberflasche entrissen, und während er mit der einen Hand die empörte Verfolgerin abwehrt, versucht er mit der anderen, an der Flasche zu schnüffeln, vergebens. Unter einem der niedrigen Bäume mit ihren tellergroßen, schattenspendenden Blättern liegt eine Frau wie tot. Ein Junge wirft sich auf sie und küsst die Schlafende. Sie wacht auf, schreit und schlägt nach ihm. Vor einer Bar hält sich eine kleine Gruppe von Menschen auf, Erwachsene und Kinder. Zwei Polizisten, die ihr Motorrad am Straßenrand abgestellt haben, tasten jeden nach Waffen und Rauschgift ab, der wie ein Straßenbewohner aussieht. Ein junger Mann von dunkler Hautfarbe, dessen Beine bis auf zwei Stümpfe amputiert sind, ist, abgesehen von einer zerschlissenen Plastiktüte, die er wie eine Unterhose trägt, unbekleidet. So rutscht er erstaunlich schnell über den Platz, indem er sich mit den Armen voran robbt. Dort, wo das Pflaster des Platzes aufgebrochen ist, verrichtet er seine Notdurft. Die Düfte des Marktes mischen sich mit denen von Kot, verfaultem Obst und Urin. Die Gerüche sind es, aber auch der penetrante Lärm, das Gedränge und Gewoge, die diese Welt so anders, fremd, schwer erträglich für uns erscheinen lassen..."
 
(aus Dieter Korzak (Hg.): Das Fremde, das Eigene und die Toleranz, Kröning 2009, S. 83ff.)

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 19.07.2011 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |