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Amerika

Biographisches, Interviews
(Text und Fotos: Joana Stümpfig, Juli 2009)

 

WER sind WIR?
Wir schweigen,
Weil wir uns schuldig fühlen.
Wir kriechen still am Boden,
Weil wir Vieh genannt werden.
Der Tag vergeht, mit Schreien, mit Streiten um jemanden.
Du denkst, du bist schlecht erzogen.
Schließlich, wer sind wir, wir Menschen der Straße?
Etwa ein kleiner Samen, der vom Baum fällt,
Den jemand vergessen hat aufzubewahren,
Um einmal gesät zu werden?
Oder eine Person, von der Zeit vergessen,
Und doch in dieser Welt wiedergeboren?
Ein wildes Tier, das das ganze Weltall in Angst versetzt,
Ein Streichholz, das sich entzündet und in weniger als
Einer Sekunde wieder verlöscht?
Ein trauriger Bettler, der auf der Straße
Sein Überleben sucht?
Der Müll der Gesellschaft, die ihn verbrennt,
Ohne Mitleid?
Das Wasser des Flusses, der noch keine Strömung hat?
Das Blatt einer Pflanze,
Vertrocknet und heruntergefallen?
Oder sind wir das Symbol dieser Welt?
Aber niemals hat uns jemand Gelegenheit gegeben,
Daran zu glauben.
Deshalb haben wir noch ein versteinertes Lächeln,
Versteckt in der Zeit.
Ich würde gerne wissen, wer sind wir,
Vor allem, wer bin ich?

Dieses Gedicht wurde von Ester Ribeiro geschrieben.1992 führte Josef Thalhammer ein längeres Gespräch mit ihr in der Nichtregierungsorganisation "Casa de Passagem" in Recife. Die damals Siebzehnjährige erzählt von ihrem Leben als Straßenmädchen und Prostituierte und überließ ihm die von ihr geschriebenen Gedichte. Diese wurden in dem Buch "WER sind WIR (Quem somos NÓS) - Gedichte, Gedanken und Bilder brasilianischer Straßenkinder" veröffentlicht.

 

Faviano
Faviano lebt schon seit vielen Jahren auf der Straße. Er ist homosexuell und trägt Frauenkleider, seine homosexuellen Freunde nennen ihn Camilla. Über zwei Jahre war er mit einem Jungen auf der Straße zusammen, aber es gab viel Streit, und sein FavianoFreund trägt heute noch die Narben auf dem Rücken, die Faviano ihm im Drogenrausch zugefügt hat. Ganz können die beiden aber nicht voneinander lassen, und so sind sie manchmal zusammen und dann wieder nicht. Momentan macht er einen Kurs und hat wieder Kontakt zu seiner Mutter aufgenommen. Da er mit dem Kurs 100 Reais im Monat verdient und sein Stiefvater nicht mehr mit seiner Mutter zusammenlebt, überlegt er, wieder bei seiner Mutter einzuziehen.

Faviano: Meine Kindheit? Meine Kindheit war eine sehr schlechte Sache. Sie war schlecht, war aber auch gut. (...) Wir sind Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen. Als ich geboren wurde, musste meine Mutter wählen. Meine Mutter würde mit einem Kind bleiben, mein Vater mit dem anderen, denn sie waren schon getrennt. Meine Mutter behielt meine Schwester, das Mädchen. Ich blieb bei meinem Vater, aber mein Vater zog mich nicht auf, wer mich aufzog war meine Großmutter, bis ich sieben Jahre alt war. Als ich sieben Jahre alt war, starb meine Großmutter. Ab da wurde mein Leben schlimm (...) Ich wohnte bei meinem Vater, mein Vater diskriminierte mich, meine Stiefmutter schlug mich sehr viel. Dann wohnte ich mit meiner Mutter. Dort gefiel es mir auch nicht, wir hatten nicht diese Nähe wie zu einer Mutter, das gab es nicht. Ich hatte mit meiner Großmutter gelebt, und meine Großmutter war wie eine Mutter für mich gewesen. Ich habe für meine Mutter nicht diese Mutterliebe, nur für meine verstorbene Großmutter. Aber ich respektierte sie, sie ist nun mal meine leibliche Mutter. Ich blieb aber nicht bei ihr, wegen meinem Stiefvater. Er war blöd und musste einem alles unter die Nase reiben. Wenn ich mir Kleidung gekauft hatte, warf er es mir vor. Ich mochte ihn nie. Als ich neun Jahre alt wurde, floh ich von zu Hause, das war die erste Flucht. Ich kam in ein Heim.

Interviewer: Gingst du direkt in das Heim oder erst auf die Straße?

Faviano: Nein, ich ging erst auf die Straße, blieb dort eine Zeit lang, aber niemals nahm ich Kleber. Dann machte ich Freundschaften, auf der Straße lernt man viele Sachen kennen, und durch diese Freunde fing ich an, Drogen zu nehmen, dann fing ich an, Kleber zu schnüffeln.

Interviewer: Das war mit wie vielen Jahren?

Faviano: Mit neun Jahren

Interviewer: All dies geschah also ziemlich schnell?

Faviano: Sehr schnell. Dort in Cruzilhada ( Stadtteil von Recife). Ich floh von zu Hause und kam dort an, und dort gab es schon eine Gruppe, die wirklich dort wohnte, Straßenbewohner. Ich lernte sie alle kennen, freundete mich mit ihnen an, und über sie fing ich dann an, die Drogen zu nehmen, die sie auch nahmen, wie den Kleber, das war meine erste Droge. Danach kam ich in ein Heim, sie haben mich dort in Cruzihade geschnappt, die Leute vom Jugendamt. Sie brachten mich in ein Heim. Und ich mochte es dort, ich blieb gerne dort. Ich floh nie aus diesem Heim. Aber wir mussten auch Besuche zu Hause machen. Ich nahm sie zum Haus meiner Mutter mit. Und als sie sahen, dass meine Mutter ein ordentliches Haus hat, ließen sie mich nicht länger im Heim bleiben. Also steckten sie mich wieder in das Haus meiner Mutter, aber sie kannten den Grund nicht, warum ich fort gegangen war. Es gibt Personen, die versuchen deine Gründe zu verstehen, aber diese Personen wollten die Gründe nicht wissen. Sie wollten nur wissen, wie das Haus war. Meine Mutter hatte ein ordentliches Haus, mein Stiefvater arbeitete, meine Mutter hatte eine Art Imbiss. Also nahmen sie mich und ließen mich zu Hause. Aber ich blieb nicht. Ich blieb drei Tage zu Hause, und dann floh ich wieder. Und da fing alles an, in meiner Kindheit. Als ich das letzte Mal von zu Hause floh, war ich fast schon 14 Jahre alt. Sie brachten mich in ein Heim in Afolgados (Stadtviertel), und dort blieb ich von 14 bis 18. Ich wohnte dort, in diesem Heim. Und in dieser Zeit, von 14 bis 18, besuchte mich meine Mutter kein einziges Mal. Ich hatte nur Besuch von Freunden, aber von meiner Familie niemals. Bis heute hat mich nie jemand besucht. Sie wissen, dass ich hier bin, das ist ein bekannter Ort, jeder kennt ihn. (...) Und nie hat mich jemand besucht. Aber mir fehlt das auch nicht. Es ist das Beste für mich. Je weiter sie von mir weg sind, umso besser, so erinnere ich mich wenigstens nicht.

Interviewer: Aber bist du nicht trotzdem ein bisschen traurig?

Faviano: Ja, manchmal macht sich diese Beklemmung bemerkbar, in meiner Brust, wenn Muttertag ist oder kurz vor Karneval, São João, Ostern, Neujahr, Weihnachten. Jeder geht und besucht seine Familie, nur ich habe nicht den Mut zu gehen. Manchmal sage ich, "Ich gehe jetzt zum Haus meiner Mutter", aber wenn ich an der Bushaltestelle bin, mache ich einen Rückzieher. Ich sage mir: "Ich werde nicht gut aufgenommen werden", deswegen gehe ich nicht. Wenn ich dorthin gehe, muss ich irgendetwas mitbringen, ich kann nicht dorthin mit leeren Händen kommen. Ich muss etwas besorgen, was ich mitnehmen kann.

Interviewer: Sagst du das, weil du glaubst, dass sie etwas erwarten, oder macht sie eine Bemerkung, wenn du mit leeren Händen ankommst?

Faviano: Sie wird das kommentieren. Sie hat es schon öfter kommentiert. Als ich hinkam, sagte sie: "Du bringst ja gar nichts mit. Du machst gar nichts, du willst dich nur herumtreiben, du bist der Sohn, den ich nie haben wollte." Dass bringt mich sehr auf, wenn sie das sagt.

Als ich mich prostituierte, mit 18, und das Heim verließ, da wurde es schwieriger für mich. Denn im Heim, da gab es Abendessen. Aber mit 18 war das vorbei, da musste ich mich selbst darum kümmern und zusehen, wie ich zu essen bekam. (...)

Galego
Galego heißt er aufgrund seiner blonden Haare. Das Interview fand auf einem Platz in der Innenstadt Recifes statt. Galego ist nicht immer dort, nur ab und zu taucht er hier auf.

Galego: Ich bin auf der Straße, seitdem ich sieben bin. Ich will hier raus. Ich will..., denn auf der Straße gibt es nichts, was taugt. Es ist sehr bescheiden, aber es kommen immer welche, die den Nächsten helfen, weißt du. Gott schickt euch alle, um uns zu helfen. Wenn ich auf der Straße bin, dann denke ich sehr viel nach, ich denke viel an die Feinde, aber mit Gottes Hilfe komme ich hier heraus. Mit dem Glauben an Gott komme ich hier raus. Alles, was auf der Straße passiert, man spürt es im Herzen, dass ihr alle, die ihr hierher kommt, um uns zu helfen, die ihr uns helft, den Nächsten (...). Ich fühle in meinem Herzen eine Sache, um hier herauszukommen, mit dem Glauben an Gott komme ich hier raus. (...)

Interviewer: Warst du immer am gleichen Ort auf der Straße?

Galego: Immer am gleichen Ort. Aber mit dem Glauben an Gott komme ich da raus.

Interviewer: Und wie hast du es geschafft, all diese Zeit auf der Straße zu überleben?

Galego: Einfach überleben. Von einem eine verpasst bekommen, dann von einem anderen. Von der Polizei bin ich auch geschlagen worden. So hat mich das Leben mitgenommen.

Interviewer: Und wie bist du zu Nahrungsmitteln gekommen?

Galego: Mit Hilfe von anderen. Diebstahl..., Gott sei Dank, habe ich nie jemandem etwas geklaut. Ich bin ein Typ, der andere um Geld bittet. Wenn die Leute nichts geben, dann klauen manche, andere klauen nicht. Aber ich bitte Gott darum, mir zu helfen, damit ich mein Häuschen haben kann, mein Lehmhäuschen. (...)

Interviewer: Wie bist du überhaupt auf der Straße gelandet?

Galego: Ich bin wegen Freunden auf der Straße gelandet. Ich hatte viele Kumpels in der Schule, weißt du. Die haben mich gerufen, damit wir uns etwas herumtreiben. Ich kam in der Schule an, sah mich um, und dann bin ich mitgegangen, ich bin auf die Straße gegangen, und fertig. Ich kam an, fand die Straße gut. Ich weiß, meine Mutter zu Hause leidet, ich bin viel mehr auf der Straße als zu Hause, denn mein Stiefvater ist zuviel. Mein Stiefvater sagt meiner Mutter, dass sie mir kein Essen geben soll. Ich ging auf die Straße, aufgebracht. Ich schnüffle Kleber. Mein Leiden war immer... Ich bitte Gott, dass ich hier herauskomme, eine Gelegenheit, um eine Familie gründen zu können. (...) Vielleicht kann ich mal meiner Mutter einen Fernseher bringen oder irgendetwas. Dort zu Hause herrscht viel Leid, deswegen bin ich auf die Straße.

Negão
Negão ist mit 10 Jahren auf die Straße gegangen, heute ist er 18 Jahre alt. Er hat versucht, seine Drogensucht in einem ambulanten Therapieprogramm zu bekämpfen, schaffte es aber nicht, regelmäßig zu den Therapiestunden zu kommen. Er lebte einige Zeit am Platz "Chora Menino", wo die Gruppe "Realidade de Rua" ihre Straßenarbeit durchführt. Dann lernte er ein Straßenmädchen aus einem anderen Teil der Stadt kennen und wurde fortan am Platz "Chora Menino" nicht mehr gesehen.

Negão: An was ich mich erinnere, als ich klein war? Ich bin aus dem Haus, mein Vater, meine Mutter schlugen mich viel. Ich bin von zu Hause weg. Ich habe angefangen zu rauchen. Fing an, Drogen zu nehmen, ich fing an, immer wieder von zu Hause zu fliehen. Mein Vater suchte mich auf der Straße, er rannte, um mich wieder nach Hause zu holen. Dann fing ich an, auf der Straße zu schlafen, Crack zu nehmen, Haschisch zu nehmen, Kleber und Kokain.

Interviewer: Aber warum bist du von zu Hause weg?

Negão: Wegen den vielen Schlägen, ich wurde viel von meinen Eltern geschlagen, also ging ich von zu Hause weg. Meine Großmutter starb, dann bin ich von einem Ort zum anderen, meine Mutter wollte mich nicht im Haus. Wer mich zu Hause wollte, war nur meine Großmutter. (...)

Interviewer: Als du das letzte Mal zu Hause warst, haben sie dich da gut aufgenommen?

Negão: Als meine Großmutter verstarb, bin ich nach Hause gegangen. Meine Mutter meinte: 'Zieh ab, du bist nicht von mir großgezogen worden." Ich sagte: "Alles klar" und ging. Ich blieb auf der Straße, dann ging ich mal wieder nach Hause, lebte wieder auf der Straße, ging nach Hause, war einen Tag auf der Straße, einen zu Hause, und bis heute mag sie mich nicht.

Interviewer: Hat sie das zu dir gesagt?

Negão: Nein, sie hat es nicht gesagt, aber sie zeigt, dass sie mich nicht mag, Tante. (...)

Interviewer: Und als du mit 10 Jahren auf die Straße gegangen bist, bist du dann hierher gekommen, oder wo bist du hin?

Negão: Ich bin in der Nähe von zu Hause geblieben, dort in der Nähe. Danach lernte ich diese Gegend kennen, kam öfter hierher, mochte es hier und blieb hier. Ich ging in die Innenstadt, dann hierher. Und bis heute bin ich auf der Straße.

Interviewer: Aber hattest du gar keine Angst? Mit 10 Jahren, noch so klein und schon auf der Straße?

Negão: (schüttelt den Kopf) Ich bin schon viel geschlagen worden, aber ich habe dazugelernt.

Interviewer: Was hast du denn auf der Straße gelernt?

Negão: Ich habe gelernt, nicht wahr, Tante!? Zum Beispiel, wie es so läuft und wie es nicht läuft, und so lebe ich mein Leben, nicht wahr!?

Interviewer: Aber was ist das, was man lernen muss? Für jemanden wie mich, die ich nie auf der Straße gelebt habe? Was sind das für Sachen, die man lernen muss.

Negão: Einzustecken, Drogen zu nehmen, zu stehlen. Ich und die Jungs, ...der schlechte Einfluss.

Interviewer: Muss man denn Drogen nehmen, wenn man auf der Straße ist?

Negão: (nickt mit dem Kopf)

Interviewer: Warum?

Negão: Weil mich meine größeren Freunde dazu gezwungen haben.(...) "Auf, rauch das", und so weiter, sie zwingen einen. Ich wurde süchtig.

Interviewer: Und was nimmst du heutzutage?

Negão: Crack, ab und zu. Ich schnüffle Kleber. Ich habe aber nie wieder Haschisch geraucht.

Interviewer: Und jetzt in diesem Projekt, willst du dich wirklich von deiner Sucht befreien?

Negão: Ja.

Interviewer: Und danach? Was erträumst du dir? Was willst du in Zukunft machen?

Negão: Ich denke daran, einen Kurs zu machen, ein Haus zu mieten, ich will von der Straße weg, mein Leben leben, mein Leben leben, eine Frau haben, meine Kinder, und mein Leben leben.

Interviewer: Hast du denn eine Freundin hier auf der Straße?

Negão: Nein.

Interviewer: Hattest du aber schon?

Negão: Ja, aber das wurde nichts.

Interviewer: Warum nicht?

Negão: Sie wollte nichts vom Leben. (...)

Interviewer: Hast du denn richtige Freunde hier auf der Straße, denen du vertrauen kannst?

Negão: Vertrauen? Wie das?

Interviewer: Naja, bei denen du dich aussprechen kannst, deine Sachen erzählen kannst, denen du vertraust.

Negão: Nein, das habe ich nicht.


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