Amerika | Afrika | Asien | Europa | Australien | Bedrohte Kindheiten | Publikationen | Projekte | Medien

Suche:   


Afrika

Lebensbilder
(Tagebuchaufzeichnungen von Uwe Marschall, 1995; Foto: Don Bosco)
 

Wenn es zu kalt wird im Hochland von Madagaskar, wo während der Trockenzeit die Nachttemperaturen bis nahe 0 Grad C. absinken, suchen sich viele Straßenkinder Holzkohle oder Lumpenreste zusammen und entfachen ein kleines, stinkendes Feuer. Diese Signallichter nutzen wir bei den Streetworkterminen als Anlaufpunkte.

Es gibt einige Kinder, die fast vollständig von und mit der Müllhalde leben. Kein größerer Unrathaufen in der Hauptstadt, welcher nicht von mehreren Menschen „bewohnt" wird. Ich habe schon ganze Familien dort campieren gesehen. Als menschliche Sortiermaschinen durchwühlen sie jeden abgekippten Containerinhalt oder Abfalleimer nach verwertbaren Resten. Junge
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Lifa
Lifa ist 11 Jahre jung. Er ist ein Einzelgänger unter den Straßenkindern und ganz auf sich gestellt, er vegetiert am Rande eines Slumviertels vor sich hin, welches sich um einen stinkenden Wassertümpel herum erstreckt. Der wird, in Erinnerung an bessere Zeiten, „Petit lac" genannt und dient als Kloake für die City der Millionenstadt.

Lifa ist einer der tragischsten Fälle unter den mir bekannten Straßenkindern. Seine Mutter war Wäscherin und ist an einer unbekannten Krankheit gestorben, als er acht Jahre alt war, „einfach so", wie er sagt.

Der Vater, ein notorischer Alkoholiker, ist dann weggegangen, „leerer als eine Flasche, auch einfach so". Lifa hat wegen seines bockigen Charakters, gepaart mit völliger Schweigsamkeit oder starken Aggressionsschüben, kaum Freunde unter den Straßenkindern, geschweige denn unter den erwachsenen Bezugspersonen. Er ist verhaltensgestört und kaum noch empfänglich für menschliche Nähe. Als ich ihn heute suche und ihn im Müllrevier antreffe, empfängt er mich mit einem scheuen Lächeln. Seine zerlöcherte Hose und das Resthemd sind ein einziger schwarzbrauner und schmieriger Stofffetzen. Um die Hüfte hat er an einer Bastschnur seine „Arbeitsgeräte" gebunden, einen Folienbeutel, eine Blechdose und den Müll-Schürhaken.

Den stinkenden und verfilzten Haarschopf ziert ein abgespecktes Strohhütchen. Wenn man näher als einen halben Meter an ihn herantritt, riecht es nach Urin und Schweiß - wie im Raubtierhaus eines Zoos. Lifa ist einer der Kinder, welche ihrem abgehärteten Körper keinerlei Pflege mehr angedeihen lassen, einzig und allein der Regen säubert ihn.

So ist er übersät mit großen, offenen Furunkeln und kleinen Schnittwunden. Auch die Krätze macht diesem schmächtigen Kerl sehr zu schaffen. Unter der Nase haben sich, durch den ständig laufenden Schnodder, Entzündungen gebildet. Für mich ist es immer wieder verwunderlich, wie Kinderkörper diesen Hygienemangel verkraften.

Dass auch seine Seele unter diesem Milieu gelitten hat, ist unzweifelhaft, denn im Gegensatz zu anderen Straßenkindern lacht Lifa fast gar nicht. In Deutschland hätte man bei einem solchen Anblick schon eine ganze Schar Sozialarbeiter auf ihn „angesetzt" und ihn wahrscheinlich sofort in eine Klinik eingewiesen. Aber hier ist er nur einer von hunderten Müllkindern in der näheren Umgebung.

Ich frage ihn, was er denn heute so gemacht hat. Er zeigt auf seine Plastiktüte, worin Reste von Holzkohle und brennbares Material gesammelt sind, diese tauscht er nachher bei einer Garküche gegen etwas Essen ein. Wenn er sehr früh wach wird und Glück hat, kann er aus dem in der Nacht herangekarrten Müll ein paar Blechbüchsen und Drahtreste klauben. Diese verkauft er dann an die Recycling-Händler, welche die Spielzeughersteller, Lampenmacher oder Feinblechner in den Slumvierteln bedienen.

Da die Konkurrenz groß ist bei den Abfalljägern, verspeist Lifa in seiner Not auch mal Essensreste direkt von der Müllhalde. Dies wird von den „normalen", starken Bettlerkindern nicht akzeptiert, und sie verspotten ihn deswegen ständig. Leider bestiehlt Lifa seine Kameraden und ist deshalb von der Gruppe verstoßen worden.

Als Lifa vor einigen Wochen wegen vereiterter Füße nicht mehr laufen konnte, durfte er bis zur Heilung im Projekt bleiben. Nach gründlicher Dusche, neuer Einkleidung und 15 Stunden Schlaf war er äußerlich nicht wiederzuerkennen. Sonst so unnahbar, bockig und betrübt, freute er sich unbändig über ein paar Buntstifte. Er malte stundenlang sehr konzentriert Blumen und Tiere, wollte ständig mit uns kuscheln und tobte mit dem Hund herum.

Zum ersten Mal erzählte er uns jetzt etwas über sein Schicksal. Am Ende übermannte ihn ein Weinkrampf. „Ich bin völlig alleine, keiner mag mich, ich esse Müll, stehle und bin so traurig. Bitte nehmt mich ins Projekt auf."

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 18.05.2010 (M. Basfeld)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |