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Straßenjugendliche in Deutschland



 Armutsberichte. Zahlen und Fakten
Wie in anderen Ländern, so ist auch in Deutschland die Bezeichnung "Straßenkinder" umstritten, die vorgeschlagenen Definitionen sind uneinheitlich und nicht befriedigend. Was das Alter der Betroffenen angeht, so stößt man auf deutschen Straßen auf Jugendliche, kaum aber auf Kinder unter 14 Jahren. Bei ihnen handelt es sich meist um Ausreißer, die kurzfristig von zu Hause oder aus einer Einrichtung weggelaufen sind. Um sie näher in den Blick fassen zu können, ist es hilfreich, zwischen Jugendlichen, die einen Großteil des Tages auf der Straße verbringen, obdachlosen Jugendlichen und Jugendlichen, die auf der Straße arbeiten, zu unterscheiden. 
 
Es liegen keine empirischen Studien vor, aus denen eindeutig hervorgeht, wie viele Straßenjugendliche es in Deutschland gibt. Alle zugänglichen Angaben sind bloße Schätzungen. Im Jahr 2001 ging das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in seinem ersten Armuts- und Reichtumsbericht von 7 000 in Deutschland auf der Straße lebenden Jugendlichen aus - junge Menschen unter 18 Jahren, die einen erheblichen Teil ihres Lebens auf der Straße zubringen (siehe Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland, Bonn 2001, S. 116). Dabei handele es sich um Personen in "extremen Unterversorgungslagen". Bisherige Untersuchungen, so der Text, seien unzureichend. Überhaupt lieferten die amtlichen Statistiken keine hinreichenden Angaben über die Menschen, die, wie Obdachlose oder Straßenkinder, am Rande der Gesellschaft stehen und von Maßnahmen des Systems sozialer Sicherung nicht oder nicht mehr erreicht würden. "Sie werden von ihren Sorgepflichtigen vernachlässigt oder entziehen sich deren Aufsicht. Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie oftmals durch Bettelei, Diebstahl, Prostitution oder Drogenhandel." (ebenda) Für viele von ihnen bestehe der Wunsch, "ein ganz normales Leben" mit Partner, Wohnung und Arbeit zu führen, aber ein Ausstieg sei oftmals schwierig. Für diese Minderjährigen fehle es an angemessenen Therapiemöglichkeiten, etwa zum Drogen- oder Alkoholentzug. Generell seien für die Betreuung von Straßenkindern die örtlichen Jugendämter zuständig, die über ein breites Spektrum an Hilfen und Maßnahmen (wie Vollzeitpflege, Heimerziehung, betreutes Wohnen oder intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung) verfügten.
 
Im Jahr 2002 meldete die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, dass 72 000 Kinder und Jugendliche in Obdachlosensiedlungen lebten. Jährlich gingen bundesweit etwa 30 000 Vermisstenmeldungen bei der Polizei ein. Davon beträfen etwa 50 Prozent Kinder und Jugendliche. Allerdings wären nicht alle vermissten Kinder Straßenkinder. Manche Jugendlichen liefen aus freien Stücken von zu Hause weg und kehrten bald wieder zurück. Andere würden von ihren Eltern verstoßen. Mädchen ertrügen schwierige Familiensituationen leichter oder länger als Jungen. Da sich männliche Jugendliche mehr als weibliche außerhalb des Hauses aufhielten, ginge der Übergang in eine Straßenkarriere bei ihnen meist schneller vonstatten. Dennoch nähere sich die früher geringere Zahl der betroffenen Mädchen der der Jungen immer mehr an. Mädchen, die der Prostitution nachgehen oder Unterschlupf bei einem Freier finden, seien naturgemäß schwerer wahrnehmbar und erreichbar als Jungen.
 
Im zweiten Armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2005 ist die Rede von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen mit "Straßenkarrieren". Die Betroffenen, so heißt es, hielten sich in den City-Szenen von Großstädten über einen längeren Zeitraum auf, hätten keine anderen (oder nur geringfügige andere, nämlich vor allem familiäre) Orientierungen und Anbindungen als die Straße. Exakte Zahlen für Deutschland lägen immer noch nicht vor. Sie könnten wegen der fließenden Übergänge zwischen der normalen Existenzweise und einer Straßenkarriere, vor allem aber wegen des häufigen Ortswechsels der Betroffenen nicht vorgelegt werden. Das Dokument geht aufgrund von Szenenschätzungen in neun deutschen Großstädten auch für 2005 von 5000 bis 7000 Personen "des harten Kerns von Kindern und Jugendlichen auf der Straße" aus. Kennzeichnend für sie sei entweder eine abrupte Flucht aus den bisherigen Lebenszusammenhängen oder eine schleichende Abwendung von Familie, Jugendhilfeeinrichtungen und Schule bzw. Ausbildung. Besonders die Jüngeren unter ihnen hätten neben der Straße eine bisweilen stärkere, bisweilen schwächere Anbindung an ihre Familien. Viele pendelten zwischen Straße, Familie und Jugendhilfe ("Pendelkarrieren"). Die meisten seien im Alter von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Kinder unter 14 Jahren fänden sich kaum. Ein gefährliches Vorstadium zur Straßenkarriere sei das Schuleschwänzen von Kindern schon ab 8 Jahren. Die meisten von ihnen kömen aus Familiensituationen, die durch Diskontinuität (Aufenthaltswechsel, Heime, Beziehungsabbrüche, problematisches Beziehungs- und Erziehungsverhalten) gekennzeichnet seien. Nicht selten sei es in diesen Familien, in denen oft Arbeitslosigkeit und Finanznöte herrschten, zu Drogenkonsum, Missbrauch und sexuellen Übergriffen gekommen.
 
Der dritte Armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2008 nennt im Blick auf Kinder und Jugendliche der Straße überhaupt keine Zahl mehr. Stattdessen werden Maßnahmen zur Betreuung der Betroffenen genannt: Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfen, Hilfe für junge Volljährige, Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen, Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit. Da Armut und Ausgrenzung zumeist mit Bildungsarmut beginnen, liegt der besondere Nachdruck auf dem Ausbau des Kinderbetreuungsangebots. Im Rahmen der Jugendsozialarbeit werden aufsuchende und akzeptierende Angebote der Straßensozialarbeit betont. Darüber hinaus gibt es Anlaufstellen für die Grundversorung (Essen, Waschen, Schlafen), medizinische Hilfe und psychosoziale Beratung. Die Kinder und Jugendlichen, die überwiegend aus hoch belasteten Familien stammen, sollen in betreute Wohngruppen integriert und aus dem schädigenden Umfeld der Straße herausgelöst werden.
 
 Im Unterschied zu den Armutsberichten der Bundesregierung wagen verschiedene Einrichtungen für Straßenjugendliche präzisere Schätzungen. Die niedrigste Zahlenangabe stammt von der landesweit engagierten Nichtregierungsorganisation Off Road Kids in Donaueschingen. Demnach gäbe es höchstens 1.500 Straßenkinder in Deutschland. Von den nahezu 2.500 Minderjährigen, die jährlich auf die Straße gelangten, würden nur etwa 300 zu richtigen Straßenbewohnern. Von "terre des hommes" wird die Zahl der unter 18 Jahre alten Obdachlosen in Deutschland auf mindestens 2.000 geschätzt. Der Anteil der Mädchen soll 30 bis 40 Prozent ausmachen. Indessen nennt der Berliner Verein "Straßenkinder e.V." allein für die deutsche Hauptstadt eine je nach Jahreszeit zwischen 3.000 bis 5.000 schwankende Anzahl. Zwei Drittel von ihnen leben angeblich noch bei der eigenen Familie, bei Freunden oder in einer sonstigen Wohnung.
 
Uwe Britten, der unter Straßenjugendlichen alle Minderjährigen zusammenfasst, die die Straße als ihren Sozialisationsmittelpunkt gewählt haben, dabei aber durchaus noch Kontakt zu den Eltern pflegen, bei ihnen übernachten oder in alternativen Wohnstätten schlafen, nennt die Zahl von 9.000 bis 10.000 Jungen, Mädchen und jungen Erwachsenen in Deutschland (siehe seine Recherche für terre des hommes). Er beschreibt sie als "Pendler" zwischen Familie, Heim und Straße. Im Jahr 2007 ergab eine Stichprobe von terre des hommes, dass etwa 2,5 Prozent der in Straßenkinderprojekten betreuten Personen unter 14 Jahren, 20 Prozent zwischen 14 und 16 Jahren, 27,5 Prozent zwischen 16 und 18 Jahren alt sind. Gut die Hälfte von ihnen ist volljährig.
 
Der Übergang vom Leben in der Familie zum Aufenthalt auf der Straße geht bei deutschen wie ausländischen Jugendlichen bisweilen langsam, manchmal auch rasch oder in Etappen vonstatten. Es gibt Kinder und Jugendliche, die vor zu strengen Regeln und Geboten, aus Angst vor Strafe für begangene Vergehen, vor Schlägen oder Demütigung fliehen. Im Grunde sind es in Deutschland und in Entwicklungsländern dieselben Ursachen, die Kinder und Jugendliche dazu bewegen, ein Leben auf der Straße zu beginnen. Lediglich der Grad der Belastung unterscheidet sich. Deutschen und ausländischen Straßenjugendlichen sind multiple Deprivationen gemeinsam - materielle Armut, Arbeitslosigkeit, unzureichende Wohnverhältnisse, mangelnde Bildung und Ausbildung, Drogen- und Alkoholabhängigkeit sowie ausgeprägte Konfliktlagen in den Herkunftsfamilien. Viele Betroffene haben Gewalt- und Missbrauchserfahrung gemacht, und die Wenigsten können auf ein belastbares soziales Netzwerk zurückgreifen.

Ursachen für das Verlassen der Familien
Bevor Jugendliche ihre Familie verlassen und den Schritt auf die Straße wagen, müssen sie zu Hause äußerst belastende Situationen ertragen. Ihre Familien verfügen meist nur über ein niedriges Einkommen. Armut und Exklusion prägen ihre Lebenslagen. Die Arbeitsverhältnisse der Angehörigen von Straßenjugendlichen sind fast immer prekär. Ihre Wohnverhältnisse lassen zu wünschen übrig. Aber schwerer wiegt, dass die Beziehungen der Kinder und Jugendlichen zu ihren Eltern gespannt sind. Institutionen wie Schule oder Einrichtungen der Jugendhilfe, von denen Hilfe zu erwarten wäre, erweisen sich als unfähig, auf die gegebene Problemsituation einzugehen und lebensdienliche Hilfestellung zu geben.

Armut, Niedriglohn und belastete Sozialräume sind Merkmale, die die Herkunft von Straßenjugendlichen in Deutschland wie in Entwicklungsländern charakterisieren. Die Situation betroffener deutscher Familien ist dermaßen prekär, dass sie sich häufig verschulden müssen, um die nötigsten Bedürfnisse befriedigen zu können. Exklusion und Armut als Ursache für die Entstehung von Straßenkarrieren sind in Entwicklungsländern naturgemäß stärker ausgeprägt als in Deutschland. Straßenkinder in südamerikanischen Ländern entstammen fast ausschließlich Familien, die in absoluter Armut leben. rn rn
 
 Charakterisierung der Herkunftsfamilien
Die Hauptbezugspersonen von deutschen Straßenjugendlichen, insbesondere ihre Eltern, haben in der Regel einen niedrigen Bildungsstand. Für die Ausübung eines Berufes sind sie häufig nur müßig qualifiziert. So gut wie nie können sie einen höheren Bildungsabschluss vorweisen, die meisten von ihnen haben lediglich eine Hauptschule oder Sonderschule besucht. In Entwicklungsländern ist dieses Merkmal noch drastischer ausgeprägt: Sehr viele Eltern südamerikanischer Straßenkinder haben überhaupt keinen Schulabschluss. Sie haben häufig nicht einmal die Primaria (Grundschule) absolviert. Nicht wenige sind Analphabeten. Ihrer Bildung und Ausbildung entsprechend gehen die Eltern deutscher Straßenjugendlicher häufig Tätigkeiten nach, für die man keine Ausbildung braucht (Nichtausbildungstätigkeit). In Entwicklungsländern sind Eltern von Straßenkindern fast immer im informellen Sektor (zum Beispiel als Putzfrau, Gelegenheitsarbeiter, Bettler usw.) tätig. 

Solange deutsche Straßenjugendliche noch zuhause lebten, waren ihre Wohnverhältnisse meist beengt. Bisweilen hatten sie nicht einmal ein eigenes Bett. In Drittweltländern ist dieses Merkmal noch drastischer ausgeprägt. Allerdings ist die Belastung durch Enge dort ein allgemein verbreitetes Phänomen und trifft den größten Teil der Bevölkerung sowie die meisten Familien des (unteren) Mittelstandes.

Unter deutschen Straßenbewohnern sind Drogen- und Alkoholkonsum weit verbreitet. Oft beginnt der Missbrauch bereits im Kindesalter, zumal wenn die eigenen Eltern alkohol- oder drogenabhängig sind. In Deutschland soll es 3 bis 4 Millionen Kinder und Jugendliche geben, die mit Drogen konsumierenden Erwachsenen aufwachsen. Die Drogenabhängigkeit wird oft von Generation zu Generation weitergereicht. In Entwicklungsländern, zum Beispiel in Südamerika, sind so gut wie alle Straßenbewohner drogenabhängig. Die Möglichkeit, Drogen zu konsumieren, ist für viele Kinder und Jugendliche ein ausschlaggebender Grund, die Familie zu verlassen und auf der Straße zu leben.

 Armut und die Folgen
Armut ist nicht nur Mangel an materiellen Gütern. Sie beeinträchtigt die Lebensqualität und wirkt sich auch sozial und psychisch aus. Arme sind isoliert, sie werden räumlich ausgegrenzt und sind gesundheitlich beeinträchtigt und besonders belastet. Kinder aus armen Familien haben meist geringere Chancen auf ein gedeihliches Leben und sind kaum fähig, ihre Lage zu verbessern. Dauerhaft materieller Mangel belastet auch die Beziehungen in den Familien. Trennungen und Scheidungen kommen häufig vor. Viele deutsche Straßenjugendliche stammen von Eltern ab, deren Ehen gescheitert sind. Arbeitslosigkeit, Mangel am überlebensnotwendigen und Verschuldung führen leicht zu innerfamiliären Spannungen und zu plötzlichen Ausbrüchen von Gewalt. Ehe deutsche Jugendliche auf der Straße landen, haben sie in der Regel gravierende Defiziterfahrungen im familiären Zusammenleben gemacht. Vielen ist es nicht gelungen, eine enge gedeihliche Beziehung zu Vater, Mutter oder Verwandten zu entwickeln. Stattdessen mussten sie Vernachlässigung, Missachtung, Misshandlungen oder gar Missbrauch erfahren.

Innerfamiliäre Konflikte verhinderten den Aufbau eines stabilen Netzwerkes sozialer Beziehungen. Kontakte zu Verwandten, etwa zu Tanten und Onkel, können die in der frühen Kindheit erfahrenen Defizite der Eltern-Kind-Beziehung nicht ersetzen oder ausgleichen. Dieses Merkmal trifft auch auf Straßenbewohner in Entwicklungsländern zu. In Kolumbien zum Beispiel haben viele Kinder, ehe sie auf der Straße landen, bereits ihren Vater oder gar beide Elternteile verloren. Nachdem sie ihr Zuhause verlassen haben, bricht der Kontakt zur Herkunftsfamilie nach und nach oft ganz ab. Viele Straßenkinder wissen nicht einmal, ob ihre Eltern noch leben. Gewalterfahrung und Defizite in der Elter-Kind-Beziehung sind häufigste Ursache für die Flucht junger Menschen aus dem Elternhaus (Christoph Butterwegge u.a.: Armut und Kindheit, Opladen 2003, S. 145).

 Schule und Exklusion
Für deutsche Straßenjugendliche sind Freundschaften überaus wichtig. Dies gilt genauso für Kinder und Jugendliche der Straße in anderen Ländern. Durch die Bildung von Gruppen und Gangs versuchen sie, früher erlebte Konflikte und Gewalterfahrungen zu kompensieren. Im Unterschied hierzu spielen institutionelle Hilfen und auch erlebte Heimaufenthalte kaum eine positive Rolle. Auch die Schule stellt oft einen Anlass dar, um das Leben auf der Straße aufzunehmen. Dieses Phänomen wird im Bildungswesen von Entwicklungsländern seit langem beobachtet. Es trifft mehr und mehr auch auf Deutschland zu. Die Schule erweist sich als unfähig, defizitäre Erfahrungen aufzugreifen, erfolgreich zu bearbeiten und zu kompensieren. Schule und Unterricht stellen für problembelastete Kinder und jugendliche offenbar keine Hilfe dar. Sie sind vielmehr Instrumente der Selektion und Exklusion. Lehrern gelingt es nicht, Kinder und Jugendliche von Flucht und Ausbruch abzubringen. Vielmehr stiften sie sie durch Disziplin und Noten unbewusst dazu an, dem feindlich gesonnenen System Schule den Rücken zu kehren. Wenn Jugendliche ein auffallend aggressives, gewalttätiges und respektloses Verhalten zeigen, wird ihnen selten Hilfe zuteil; stattdessen werden sie bedroht und früher oder später aus dem Schulsystem ausgeschlossen. Schule integriert nicht, sondern segrediert. In Entwicklungsländern ist es nicht anders. Kinder und Jugendliche der Straße tragen oft negative Schulerfahrungen, sie sind angesichts von Misserfolgen und Zurückweisung oft enttäuscht und traumatisiert. Entsprechend ablehnend reagieren sie mitunter auf neue Bildungsangebote.

 Überlebensstrategien. Individuelle Ressourcen
Wenn Jugendliche die Straße als Lebensmittelpunkt gewählt haben, bleibt ihnen selten eine realistische Chance, ihre materielle Situation zu verbessern. Sie kommen nur schwer an Geld, haben kaum eine Möglichkeit, sich weiter zu bilden und sind gesundheitlich ständigen Gefahren ausgesetzt. Wohn- und Übernachtungsmöglichkeiten sind äußerst prekär. Die Grenzen zwischen legaler und illegaler Tätigkeit auf der Straße sind fließend. Lukrativer als legale Gelegenheitsjobs - Schuhe putzen, Autos bewachen, Zigaretten verkaufen und Waren transportieren - sind Diebstahl, Drogenhandel und Prostitution. Dies gilt in Deutschland und erst recht in Entwicklungsländern. Als Mittel zur Sicherung der elementarsten Bedürfnisse reicht jedoch auf Dauer weder das eine noch das andere aus.

Hinsichtlich der Frage nach den individuellen Ressourcen zur Bewältigung des Alltags von Straßenjugendlichen kann man in Anlehnung an Bourdieu zwischen sozialem, kulturellem und biophysischem "Kapital" unterscheiden. Beim sozialen Kapital handelt es sich um emotional-affektive sowie sozial kommunikative Fähigkeiten. Kulturelles Kapital betrifft den kognitiv-rationalen, biophysisches Kapital den psychomotorischen Bereich. Was Straßenjugendlichen in Deutschland wie in anderen Ländern mangelt, ist ein gesund ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Die wenigsten haben optimistische Zukunftserwartungen. Dieses Manko beeinträchtigt sie in seelischer wie sozialer Hinsicht. Stattdessen ist bei ihnen die Neigung verbreitet, Konflikte rasch und handgreiflich durch ein aggressives, gewalttätiges Verhalten zu bewältigen.

Unter den deutschen Straßenmädchen kommt die Neigung zu Selbstverletzungen als vermeintliches Problemlöseverhalten häufiger vor. Wenn es darum geht, Kontakte zu knüpfen, fühlen sich Straßenjugendliche häufig durch eine eingeschränkte sprachliche und kommunikative Kompetenz, mangelnde Bildung und schulische Defizite minderwertig und behindert. Indes hegen viele Jugendliche der Straße in Deutschland wie in Entwicklungsländern den dringenden Wunsch, ihre abgebrochene Schullaufbahn fortzusetzen. Sie möchten zu einer angemessenen Berufsausbildung kommen. Nicht selten trifft man auf der Straße junge Menschen an, die sich für Kunst und Literatur interessieren und auch Talente zum Malen, Schreiben, Musizieren und Theaterspielen aufweisen.

Der Konsum von Drogen ist für Straßenbewohner in Deutschland wie anderswo ein Mittel zur Lebensbewältigung. Rauschgift kann für eine gewisse Zeit Angst, Ekel, Frust, Wut und Hoffnungslosigkeit besänftigen oder beseitigen. Im Blick auf die Zukunft hegen so gut wie alle Jugendlichen der Straße die Hoffnung, ihre Situation verbessern zu können. Sie möchten gerne einer geregelten Arbeit nachgehen, einen Schulabschluss machen und eine Berufsausbildung absolvieren. Später möchten sie genügend Geld verdienen, eine Familie gründen und Kinder haben. Während bei Straßenjugendlichen in Deutschland diese Perspektiven meist durchaus realisierbar erscheinen, sind die Zukunftswünsche von Kindern und Jugendlichen der Straße in Entwicklungsländern leider oft illusionär.

 
Links und Literatur

BMA - Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2001.

BMA - Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2005.

BMA - Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2008.

Butterwegge, Christoph u.a.: Armut und Kindheit. Ein regionaler und internationaler Vergleich, Opladen 2003, insbes. S. 127ff.

Seidel, Markus: Straßenkinder in Deutschland, Frankfurt am Main / Berlin 1994.

Britten, Uwe: Abgehauen. Wie Deutschlands Straßenkinder leben, Bamburg 1995.

Bodenmüller, Martina: Auf der Straße leben - Mädchen und junge Frauen ohne Wohnung, Münster 1995.

Kilb, Rainer: Out of Order? Straßenleben von jungen Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern am Beispiel Frankfurt am Main, in: Sozialmagazin 12/1996, S. 50ff.

Pfennig, Gabriele: Lebenswelt Bahnhof. Sozialpädagogische Hilfen für obdachlose Kinder und Jugendliche, Neuwied 1996.

Lutz, Ronald u.a. (Hg.): Weggelaufen und ohne Obdach. Kinder und Jugendliche in besonderen Lebenslagen, Weinheim/München 1999.

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 07.07.2015 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |